„So wie Du mich willst“: Juliette Binoches virtuelle Affäre wird real
Mit einem Satz ist alles gesagt. „Ich gab nicht vor, 24 Jahre alt zu sein, ich war tatsächlich 24“, sagt Claire (Juliette Binoche), die eigentlich über 50 ist, zu ihrer Psychotherapeutin. Ihr ausgezehrtes Gesicht wirkt wie nach einem heftigen Rausch. In ihrem zarten Lächeln scheint sich zugleich die eine oder andere süße Erinnerung widerzuspiegeln. Schließlich waren die vergangenen Monate für die Literaturprofessorin tatsächlich ein einziger, und zwar emotionaler Rausch.
Panik, unterm Radar zu laufen
Claire gehört zu jenen Frauen, die in manchen öffentlichen Meinungsbeiträgen gerne als „unsichtbar“ bezeichnet werden. Die Jugend ist dahin. Die Haare werden grau und die Lider schlaff. Claire und viele andere Geschlechtsgenossinnen, die in dieses Schema passen, werden von Panik ergriffen, unterm Radar zu laufen, ob im Berufsleben oder als Partnerin. Die geschiedene Mutter zweier Söhne (ihr Mann verließ sie für eine Jüngere) sehnt sich nach Nähe und Leidenschaft.
Beides suchte sie bei ihrem Liebhaber Ludo, der ihr Sohn sein könnte. Als mit dem attraktiven Architekten Schluss ist, treibt die Angst vor der Einsamkeit Claire dazu, ihr Glück in einem sozialen Netzwerk zu suchen. In einem Fake-Profil gibt sie sich als 24-jährige Clara aus. Auf diese Weise versucht sie, Ludo zumindest im virtuellen Raum nahe zu sein. Um das zu erreichen, schickt sie Ludos Mitbewohner Alex eine Freundschaftsanfrage.
Keine eigenständige Existenz im Internet
Das hat ungeahnte Folgen: Zwischen den beiden beginnt eine Affäre, die durchaus real wird, selbst wenn sie sich nicht im analogen Leben begegnen und Alex in die angebliche Clara vernarrt ist. Doch wie lange kann Claire, die sich immer stärker zu ihrem Online-Lover hingezogen fühlt, ihre wahre Identität verbergen? Der emotionale Kick tut der Pariserin sichtlich gut, doch die Kontrolle über dieses gefährliche Spiel droht ihr zu entgleiten.
„Durch die sozialen Medien kann man sich durchaus in Illusionen verirren“, sagte Juliette Binoche, die im wahren Leben fleißig auf den einschlägigen Plattformen unterwegs ist, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland über ihren aktuellen Film. „Man fühlt sich vielleicht gut in der digitalen Realität – aber man kann nicht sein Leben darauf aufbauen.“ Was in der Kunst gelinge, ist in den sozialen Medien unmöglich: „Es lässt sich nun mal keine eigenständige Existenz im Internet erschaffen.“
Binoche als Idealbesetzung
Vor diesem Dilemma steht auch Claire. Trotzdem genießt sie zunächst das Abenteuer, sich im Netz als das darzustellen, was sie gerne wäre. Bis sie daran glaubt, es wirklich zu sein. Es ist eine Lust zu beobachten, wie Juliette Binoche die ständige Ver- und Rückverwandlung mit allen Fasern spürbar macht. Kaum signalisiert ihr das grüne Pünktchen auf dem Smartphone, dass Alex online ist, verschwindet jegliche Müdigkeit und Schlaffheit aus ihrem Gesicht wie aus ihrem gesamten Dasein. Doch dessen Wunsch, ihr in die Augen zu schauen, bringt dieses Abenteuer und damit auch ihre mühsam aus Neue errungene Selbstsicherheit in Gefahr. Plötzlich stehen die Verliebten am Abgrund.
Erzählt wird das Ganze in Rückblenden, die sich in den besagten Gesprächen mit besagter Therapeutin ergeben. Doch die Patientin pflegt ihren ganz eigenen Umgang mit der Realität. Am Ende wissen auch die Zuschauenden nicht mehr so recht, ob die Protagonistin ihre Wunschträume präsentiert oder, auch im heilsamen Sinne, reinen Tisch macht. Für diese widersprüchliche und auch undurchsichtige Rolle ist Juliette Binoche nicht weniger als eine Idealbesetzung. Schonungslos auch gegenüber sich selbst, findet sie gerade dann, wenn es nichts zu sagen gibt, besonders eindringliche Formen, die Lebensgier, aber auch die Ängste ihrer Figur zu transportieren.
Diese außerordentliche Leistung besticht umso mehr vor dem Hintergrund einer ansonsten etwas betulichen, wenn nicht gar biederen Adaption des Romans von Camille Laurens. Somit ist „So wie Du mich willst“ sicherlich nicht der definitive Film über die gefährliche Verführungskraft virtueller Welten, wohl aber ein großartiger Juliette-Binoche-Streifen. Ähnlich wie in „Das bessere Leben“ (2012) lässt uns die Aktrice daran teilhaben, wie sich eine Frau am Wendepunkt in eine neue Welt eintaucht. Ein Trip, den man lange nicht vergessen wird.
„So wie Du mich willst“ („Celle que vous croyez“, Frankreich 2019), ein Film von Safy Nebbou, mit Juliette Binoche, François Civil, Nicole Garcia u.a., 101 Minuten.