Kultur

Schwererziehbar?

von Dorle Gelbhaar · 13. September 2009
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Anja Sander geht in die neunte Klasse, schwänzt manchmal und genießt ihr Leben. Sie hat eine tolerante Mutter, die absolut nichts von Zwang hält und sofort protestiert, wenn etwas geschieht, was sie nicht für richtig hält. So hat sie aus Protest mitten auf dem Marktplatz getrommelt, als ihre Freundin Thea von der Staatssicherheit abgeholt wird.
"Wieder einmal Scheiße gebaut zu haben", wirft Anja ihrer Mutter vor, als diese ihr davon erzählt, einen Ausreiseantrag gestellt zu haben und mit Anja einen Neuanfang bei den Großeltern in Hamburg wagen zu wollen. Das Mädchen ist zwar nicht in der FDJ und amüsiert sich über staatliche und schulische Vorgaben, wo es nur kann. Aber der Ausreiseantrag kommt völlig unerwartet. Anja ist vor allem darüber empört, dass ihre Mutter entschieden hat, ohne sich vorher mit ihr verständigt zu haben. Das Mädchen geht ins Bett.
Aber am nächsten Morgen kommt ihre Mutter ins Gefängnis und Anja in ein Durchgangsheim. Für Anja beginnt ein Leben, das sie in ihrer Heimat nicht für möglich gehalten hat.

Differenzierungen
Das Aufnahmeprocedere im Durchgangsheim der Jugendhilfe verwundert sie. Sie muss ihre persönlichen Dinge abgeben: Uhr, Schlüssel, Kette, Portemonnaie. Sie bekommt es mit der Boshaftigkeit anderer Mädchen zu tun. Nachts wird sie mit Urin übergossen. Die von Anja daraufhin verprügelte Drahtzieherin bezeichnet diese höhnisch als Bettnässerin. Zum Glück hat in dieser Nacht die Erzieherin Frau Wieland Dienst. Die schaut genau hin und fragt, wieso Anjas Nachthemd dann nur vorn nass wäre. Sie versucht Anja ein wenig aufzubauen, kann ihr aber nur wenig helfen.
Erzieher und Lehrer werden in diesem Buch sehr differenziert dargestellt. Es ist nicht die Frage, wo und als was einer oder eine arbeitet, sondern wie ddie Betreffenden sicht verhalten. Da gibt es unterschiedliche Muster.

Rechtlos
Für Anja kommt alles noch viel schlimmer. Sie wird in einen Jugendwerkhof eingewiesen, in welchem es ihr als großartige Chance offeriert wird, hier eine Teilfacharbeiter-Ausbildung im Bereich Wirtschaftshilfe, Küche, Hausreinigung oder Wäscherei, abschließen zu dürfen. Auf ihre konsternierte Entgegnung hin, sie gehe doch noch zur Schule, hält der Direktor ihr das bisherige Desinteresse und die nachweisbaren schulischen Fehlzeiten vor, um dann generös zu erklären, selbstverständlich besuche sie weiter die achte Klasse. Sie ist aber schon in der neunten gewesen.

Flucht
Anja kennt nur noch ein Ziel: Ausreißen. Die Flucht zu Tante und Onkel nach Thüringen gelingt auch, aber nur auf Zeit. Sie muss wieder zurück. Als eine Erzieherin ihr von einem Brief ihrer Mutter erzählt, ihr diesen aber nicht aushändigt, verliert sie die Nerven, schlägt mit einem Stuhl auf die Erzieherin ein. Nun muss Anja an den Ort, den sie vom Hörensagen als den schlimmsten kennt: den Jugendwerkhof Torgau. Von hier zu fliehen, ist fast unmöglich.

Glück

Jugendwerkhof, damit verband sich in der DDR der Begriff der Schwererziehbaren, derer, mit denen Eltern und Lehrende nicht fertig wurden, die auf die schiefe Bahn rutschten, kriminell wurden. Die jugendliche Heldin dieses Buches passt nicht in ein derartiges Klischee. Sie und ihre Mutter sind sich in kritisch-liebevollem Verhältnis verbunden. Der Leser lernt in dem Buch aber auch andere kennen, die aus weniger glücklichen Verhältnissen kommen als Anja Sander, und begreift ihre traurigen Schicksale ansatzweise. Die Autorin Grit Poppe zeichnet ein vielschichtiges, eindringliches Bild von einer Welt hinter den Kulissen sozialistischer Erziehung.
Ihre Heldin hat in mehrfacher Hinsicht Glück. Die Geschichte endet 1989.
Die letzte Flucht wird zum Start in ein neues Leben.

Dorle Gelbhaar


Grit Poppe "Weggesperrt", Cecilie Dressler Verlag Hamburg 2009, 332 Seiten, 9,95 Euro, ISBN 978-3-7915-1632-5 Hier bestellen...

Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

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