Kultur

Schluss mit Auslese – Fördern ist Trumpf

von Dagmar Günther · 20. März 2008

"Hier stehe ich, ich kann nicht anders!": Carlo Schulz zitiert verzweifelt Martin Luther. Er tut dies vor dem Hintergrund, dass zirka 20 Prozent eines Jahrgangs in der Bundesrepublik ohne qualifizierten Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt bzw. in die Arbeitslosigkeit oder in Ein-Euro-Jobs geschickt werden. Wenn PISA "uns bescheinigt, dass wir allenfalls im Mittelfeld der Teilnehmer liegen", dann stimmt doch etwas nicht mit dem System, meint Schulz, der in Schleswig-Holstein und Hessen zur Schule ging, 44 Jahre als Lehrer, Schulleiter und Schulamtsdirektor beim Staatlichen Schulamt in Hessen arbeitete. Es folgt eine überzeugende Analyse.

Teil der sich verschärfenden Situation

Im Film "Kinder" beschreibt der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther, drei Dinge, die das Kind braucht: "Aufgaben, an denen es wachsen kann, Vorbilder, an denen es sich orientieren kann und Gemeinschaften, in denen es sich aufgehoben fühlt. Die gegenwärtige Praxis, so Carlo Schulz, ist leider eine andere: "Die Kinder bekommen Aufgaben, an denen nur ein Drittel wächst, während die Mehrheit daran knabbert und wenigstens ein weiteres Drittel scheitert. ... Die Vorbilder kommen aus Medien und erfüllen ihre Aufgabe, indem sie Schule vergessen lassen. Die Grundschulen sind in vielen Fällen noch in der Lage den Kindern eine Gemeinschaft zu geben... Schulen der Sekundarstufe I dagegen sind zum überwiegenden Teil nicht in der Lage, diese so zentrale Forderung zu erfüllen."

Engagiert setzt sich der Autor mit dem dreigliedrigen deutschen Schulsystem in der Grund- und der Sekundarstufe I auseinander. Er identifiziert es als "Teil der sich verschärfenden Situation in unserem Lande" . Dabei bleibt er aber nicht stehen, sondern ordnet es ein ins System. Er betrachtet auch das Davor und das Danach, lässt keine Lernform aus: vom Kindergärten bis zur Universität. Und er prognostiziert das Ergebnis der nächsten PISA-Studie: Es wird keine Verbesserung für die in unserem Schulsystem gezeigten Leistungen geben..."

Volksschule als Ausweg

Carlo Schulz nimmt vieles aufs Korn: Er befasst sich mit den Ausgaben pro Schüler genauso wie mit den Lehrergehältern im Vergleich zu anderen Ländern. Er kritisiert Klassenfrequenzen, hinterfragt Förderschulen und Eliteförderung. Und er fordert echte Chancengleichheit ein. "Schluss mit der Auslese. Fördern ist Trumpf", lautet seine Devise. Und die könnte umgesetzt werden mit der Einführung einer Volksschule nach skandinavischem Beispiel mit gemeinsamer Schulzeit für alle bis zur 9./10. Klasse. Jedenfalls wäre das ein Schritt in die richtige Richtung. So könne man den Kindern geben, was sie brauchen: Aufgaben, Vorbilder und Gemeinschaften. Der Autor spricht aus Erfahrung. Als Leiter der Deutschen Schule in Kopenhagen war er direkt in das Dänische Schulwesen eingebunden und lernte die Vorteile der so genannten Volksschule kennen. Über EU-Projekte gewann er Einblick in die Schulsystem Frankreichs, Griechenlands, Italiens, Polens, Sloweniens und Ungarns.

Nicht von ungefähr stellt Carlo Schulz ans Ende seiner streibaren Schrift ein Zitat aus dem Handbuch für Psychologie von 1998: "Es bleibt also letztlich nur der mühsame Weg einer Anpassung des Unterrichts an die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler. Im Bewusstsein der empirisch gesicherten Tatsache, dass aufgrund stabiler, änderungsresistenter, individueller Unterschiede nicht alle Schüler alles lernen und gleiches leisten können, kommt es darauf an, durch differentielle Lernziele, durch einen adaptiven individualisierenden Lehrstil, durch die systematische Kombination verschiedener Unterrichtsmethoden und durch ausreichende nachhelfende (remediale) Instruktion dafür zu sorgen, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen kollektiver Leistungsegalisierung (bei grundlegenden Lernzielen) und individueller Lernförderung (im Sinne eines Differenzierungscurriculums) verwirklicht wird."

Diese Forderung hat nichts an Aktualität eingebüßt. Im jetzigen Schulsystem aber kann sie nicht realisiert werden. Der Autor hofft, "viele Mitstreiter zu gewinnen und damit die Basis für eine Reform des deutschen Schulwesens ein wenig zu vergrößern". Möge es ihm gelingen.

Dagmar Günther

Carlo Schulz: Alle guten Dinge sind eins - Plädoyer für ein besseres Schulsystem, Mauer Verlag, Rottenburg a. N. 2008, 74 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-86812-124-7

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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