Die Veranstalter haben sich alle Mühe gegeben: In den sechs Konzertstunden traten nicht nur die gefeierten Popgrößen auf, sondern auch unbekannte Gruppen aus verschiedenen
Entwicklungsländern; die Umbaupausen auf der Bühne wurden für Statements und Gespräche mit zahlreichen Gästen genutzt und es liefen auf großen Videoleinwänden kurze Filme, die auf Missstände und
Ungerechtigkeiten in aller Welt aufmerksam machten. Zeit für Botschaften war also genug. Dementsprechend groß waren die Ansprüche der Veranstalter: Sie verteilten T-Shirts, auf den zu lesen war:
"Ich habe Woodstock verpasst, aber ich werde nicht Rostock verpassen!"
Sehen wir mal von den unterschiedlichen Größenordnungen ab (die vier Tage in Woodstock erlebten 1969 etwa 400.000 Menschen, weitere 600.000 kamen aufgrund des Verkehrschaos nicht weiter und
mussten umkehren), gibt es einen weiteren auffälligen Unterschied zwischen diesen beiden Veranstaltungen: Woodstock hatte ein politisches Beiprogramm nicht nötig. Alles war irgendwie Politik: Die
Musiker teilten und lebten mit ihrem Publikum ein ganz bestimmtes Lebensgefühl, eine ganz bestimmte Weltanschauung. In Woodstock atmeten alle den Zeitgeist, viele Worte waren nicht nötig: Es
genügte, wenn Jimmi Hendrix vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges mit "The Star-Spangled Banner" - seiner Interpretation der US-Hymne - versuchte, das Geräusch einschlagender Raketen und das
Sterben der Soldaten musikalisch wiederzugeben.
Die Pop- und Rock-Musik von heute ist aber im Kern unpolitisch. Die Bands in Rostock spielten souverän zwei, drei ihrer bekannten Chartsongs, das Publikum war diszipliniert begeistert, das
Catering funktionierte einwandfrei, vorab gab es eine Pressekonferenz und zwischendurch wurde live ins ARD-Fernsehen geschaltet. Wie schmal der Grat zwischen Event und Botschaft ist, wurde
spätestens deutlich, als Moderatorin Sarah Kuttner kurzzeitig die begeisterten 80.000 Zuschauer motivierte, alle drei Sekunden mit den Fingern zu schnipsen, denn: Alle drei Sekunden stirbt auf der
Welt ein Kind an Hunger.
Die Botschaften des Nachmittages klangen alle ähnlich: "Wir erheben unsere Stimme/ kämpfen/ machen Druck gegen Armut." Wenn es konkreter wurde, rückten die G8-Staatschefs in Heiligendamm in
den Mittelpunkt. Diese müssten die Afrika-Hilfen erhöhen und sich an ihre Versprechen halten. Am konkretesten wurde schließlich Herbert Grönemeyer, als er Frau Merkel aufforderte, die geplanten 750
Mio. Euro für zusätzliche Entwicklungshilfe zu verdoppeln.
Der Tenor war gleichlautend: Die da hinter dem Zaun müssen was tun gegen die Armut, sie tragen Verantwortung, sie haben Schuld. Wohlfeiler kann Protest nicht sein. Aber was würde eigentlich
passieren, wenn Europa wirklich die Zollschranken und die Agrarsubventionen fallen ließe, wenn unterdrückte Arbeiter gut bezahlt werden würden und wenn die Entwicklungsländer wirklich eine faire
Chance hätten, sich am Welthandel zu beteiligen? Dass dies mit deutlichen Verwerfungen in den Industrieländern verbunden wäre, bleibt ungesagt. Ebenso, dass der Kampf für eine bessere Weltordnung
und für ein besseres Klima auch mit eigenem materiellen Verzicht und mit Selbstbeschränkung verbunden wäre.
Im Film zur Kampagne "Stimmen gegen Armut" heißt es dann auch: "Wir wollen nicht dein Geld, wir wollen deine Stimme". Dementsprechend günstig waren die Eintrittskarten: Während die Zuschauer
sonst in Scharen in die Konzerte der Künstler kommen und dafür 50 bis 100 Euro bezahlen, kostete das Rostocker Konzert nur 2,50 Euro. Wo Hilfe einmal konkret werden könnte, hat man leider die
Chance verpasst: Bei einem Eintrittsgeld von 25 Euro wären sicher nicht weniger Zuschauer gekommen, aber man hätte die Einnahmen für ein konkretes Hilfsprojekt verwenden können. So war es eher ein
Konzert gegen die Armut in Deutschland. Zwei Euro fünfzig sind nicht viel für ein gutes Gewissen.
Stephan Bliemel
Mitglied des SPD-Landesvorstandes MV
Pressesprecher des Finanzministeriums MV
Redakteur und Mitherausgeber des Magazins horizonte
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