Kultur

Recht und Gerechtigkeit

von Anke Schoen · 3. August 2011
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Der Journalist geht auf Spurensuche. Er recherchiert akribisch, beobachtet den Prozess, beleuchtet alle Seiten des packenden Falls. Nur mühsam lassen sich die Ereignisse rekonstruieren. Wefing kann die Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen fügen. Stimmig ist es deshalb noch lange nicht. Knapp zwei Jahre beobachtete der Journalist den Prozess gegen John Demjanjuk

.Das Buch ist das Produkt der Reportagen und Kommentare, die er für die Wochenzeitung "Die Zeit" anfertigte. Anschaulich geschrieben nimmt Wefing den Leser mit in die wohl düsterste Zeit der deutschen Geschichte. Er erzählt von einem Angeklagten, der das Schweigen nicht brechen möchte. Selbst bei der Urteilsverkündung lässt sich Demjanjuk nicht hinreißen, ein Wort zu verlieren: weder des Mitgefühls, noch eines, das seiner Verteidigung dient.

Aufseher und Handlanger der SS

Eine konkrete individuelle Tat kann dem Mann nicht angelastet werden, dennoch wird er schließlich der Beihilfe zum Mord an mindestens 28 060 Menschen schuldig gesprochen. Im Urteilsspruch heißt es, Demjanjuk sei Wachmann im NS-Vernichtungslager Sobibor und damit "Teil der Vernichtungsmaschinerie" gewesen. Der Ukrainer war Aufseher im Konzentrationslager und im Zweiten Weltkrieg Handlanger der SS. Er gehörte zum Personal und sekundierte die Transporte, die im Vernichtungslager Sobibor, im heutigen Polen gelegen, eintrafen. Weil er nicht geflohen ist, habe er sich schuldig gemacht. Eine Flucht sei möglich gewesen, so das Gericht: 1000 der 5000 so genannten Trawniki-Männern, freiwillige osteuropäischen Helfer der SS, seien tatsächlich geflohen.

Der Prozess zeige, dass "die juristische Auseinandersetzung mit dem Völkermord an ihr Ende kommt. Die Täter und die Zeugen sterben, die lebendige Erinnerung verblasst, die Beweisregeln des Strafprozesses stoßen an ihre Grenzen. Irgendwann, recht bald vermutlich, werden die Richter und Staatsanwälte ihre Akten schließen und an die Historiker übergeben". Bei dieser Bewertung bleibt Wefing allerdings nicht stehen, sondern fragt auch nach dem Zweck dieser juristischen Auseinandersetzung. Dient sie der Besserung des heute 91j-ährigen? Sind es Vergeltung und Rache? Oder Abschreckung? Wefings Antwort ist so banal wie naheliegend: "Um der Wahrheit willen", habe der Prozess stattfinden müssen, zitiert er aus einem Leitartikel seines Kollegen Josef Joffe .

Dokumente sind die einzigen Zeugen

Es stellt sich dennoch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Wahrheitsfindung. Ist diese überhaupt möglich, wenn es nur ein tragendes Beweisstück gibt und der Angeklagte beharrlich schweigt? Wenn die Zeugen betagt und auf der Suche nach Vergeltung sind? Tatsächlich gibt es keine lebenden Zeugen mehr, die eine Aussage über Demjanjuks Einsatz in Sobibor machen könnten. Es sind Dokumente und Archivmaterial aus der ganzen Welt, die den Ukrainer überführen sollten.

"Der Fall Demjanjuk" ist spannend wie ein Krimi, der dem Leser keine Ruhe lässt. Heinrich Wefing, stets um Objektivität bemüht, schließt mit den Worten: "Das ist genau die Unterscheidung, die das Strafrecht zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld trifft. Rechtswidrig war Demjanjuks Handeln ganz gewiss, aber vorwerfen, vorwerfen kann man ihm schwerlich, dass er nicht sei eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hat, um sich dem Mordregime zu entziehen." Und so obliegt es jedem Leser selbst, sich über den Fall Demjanjuk ein eigenes Urteil zu bilden.

Heinrich Wefing: "Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess",Verlag C.H. Beck, 240 Seiten, Euro 19,95, ISBN: 978-3-406-60583-3

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Anke Schoen

ist freie Journalistin.

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