Wie lebt es sich in einem selbst erschaffenen Gefängnis, wenn draußen überall von Freiheit die Rede ist, mag diese auch noch so diffus sein? In „Coming Forth By Dear“ pflegt die ägyptische Filmemacherin Hala Lotfy einen überraschenden Blick auf eine Gesellschaft im Umbruch.
Mag Ägyptens Kulturleben im Vergleich zu anderen arabischen Ländern auch noch so pluralistisch sein: Independentfilme haben es am Nil noch immer sehr schwer. Erst recht, wenn sie einen kritischen Blick auf soziale Realitäten werfen. Umso mehr fallen die Ausnahmen auf. Wie etwa der Film „Kairo 678“, der 2012 in den deutschen Kinos lief. In dem noch unter Mubarak gedrehten Drama setzen sich junge Frauen gegen die alltäglichen sexuellen Übergriffe zur Wehr. Seit dem Arabischen Frühling haben diese rasant zugenommen. Eine britische Studie platziert Ägypten ganz unten, was die Lebenssituation von Frauen in arabischen Ländern betrifft. Demnach erlebt dort nahezu jede Frau (99,3 Prozent) im Laufe ihres Lebens sexuelle Belästigung. 91 Prozent der erwachsenen Ägypterinnen leben mit verstümmelten Genitalien.
Auch in „Coming Forth By Day“, der auf der diesjährigen Berlinale zu sehen war, geht es um die Unwägbarkeiten eines Gemeinwesens, das unübersehbar in einer existenziellen Krise steckt. Doch Lotfy legt in ihrem Debütfilm den Fokus nicht auf den Clash von Weltanschauungen. Sie zeigt, was es heißt, vor diesem Hintergrund als Familie eine ganz eigene Krise durchzumachen, die nicht weniger weitreichend ist.
Abschied auf Raten
Soad und ihre Mutter verfolgen Tag für Tag, wie ihr Vater und Ehemann sich von ihnen entfernt. Seit einem Schlaganfall ist er ein hilfloser Pflegefall. Der Alltag der Frauen ist komplett auf seine Versorgung ausgerichtet. Im Halbdunkel einer Altbauwohnung am Rande von Kairo schleicht vor allem Soad umher, um den Mann, der seine Sprache verloren hat, zu füttern, zu windeln und zu betten. Die Mutter hockt meist mit halb geschlossenen Augen vor dem Fernseher oder verschwindet zur Schicht als Krankenschwester. Das Schweigen, das zwischen den Frauen herrscht, unterstreicht die Belastung und die Monotonie, die dieses Leben mit sich bringt. Zugleich spricht daraus der Hang, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wenn die Hoffnung auf Besserung schwindet und sich das Gefühl einschleicht, Abschied zu nehmen.
Beiden Frauen ist zudem die Dünnhäutigkeit anzumerken, die daher rührt, seine Bedürfnisse ständig hintanzustellen. Während die Mutter sich vorwiegend in Apathie flüchtet, packt Soad die Verzweiflung, wenn ihr Vater wieder einmal nichts essen will. Doch bei all der Frustration ist Umgang mit dem Kranken auch immer wieder Platz für Zärtlichkeit. Außenstehende, selbst Familienmitglieder, finden in diese abgeschlossene Welt nur selten Zugang.
Die quasi-dokumentarischen Einstellungen eines unendlich langen Tages sind von einer erdrückenden Stille, die nur selten gebrochen wird. Mag die soziale Misere auch gefühlt weit weg sein, so befinden sich Soad und ihre Mutter doch mittendrin. Die soziale Misere Ägyptens prägt letztendlich auch die Pflege des Kranken. Weil das Einkommen der Familie aus der Arbeiterklasse knapp ist, bleibt eine neue Matratze für den Vater ein Wunschtraum. Tagaus tagein wäscht Soad die schäbigen Leinentücher, auf denen sich der Vater längst wund gelegen hat, mit der Hand und streitet sich mit ihrer Mutter um Geld.
Gewalt vor Augen
Als Lotfy die Protagonisten voneinander trennt, nimmt die Handlung Fahrt auf. Während sich Soad – ohne zu wissen, dass sich der Zustand des Vaters verschlechtert hat – bei einem Stadtbummel durch Kairo treiben lässt, wird deutlich, wie sehr sich die etwa 30-Jährige von ihren eigenen Wünschen und Träumen entfernt hat. Plötzlich erlebt der Zuschauer den bedrohlichen Schwebezustand Ägyptens, wo nicht zuletzt das Selbstbewusstsein von liberal eingestellten Frauen wie Maher auf den konservativen Mainstream und männliches Allmachtsgehabe prallt, mit voller Wucht. Von den Männern im Bus misstrauisch beäugt, beichtet ihr eine 25-Jährige, dass sie es als Schande empfinde, nicht verheiratet zu sein. Die nächtliche Taxifahrt droht ihrem Befreiungsakt ein gewaltsames Ende zu setzen. Und auch an dieser Stelle erleben wir, wie die von Donia Maher ebenso zurückgenommen wie ausdrucksstark verkörperte Soad rasch vom Ohnmachtsgefühl zur Offensive übergeht.
Es sind gerade diese Momente, die das Kopfkino zum sozialen und kulturellen Sprengstoff im bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt in Gang setzt. Das Fünkchen Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben, mit dem Soad nach den Turbulenzen der Nacht den neuen Tag begrüßt, nimmt der Zuschauer gerne mit.
Al-khoroug lel-nahar – Coming Forth By Day (Ägypten/Vereinigte Arabische Emirate 2012), ein Film von Hala Lotfy, mit Donia Maher, Salma Al-Najjar, Ahmad Lutfi u.a., 96 Minuten.
Ab sofort im Kino
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