"Kerstin Hensels Romane sind richtige Schätze: Sie bewahren - mit großer sprachlicher Präzision - Geschichten auf, die nur sie erzählen kann und die unter keinen Umständen verloren gehen dürfen", hieß es in "Die Welt", als 2005 ihr Roman "Falscher Hase" erschien. Genau das könnte auch über "Lärchenau" gesagt werden. Mehr noch: Hensels Romane bewahren Geschichten nicht nur auf, sondern fügen sie auch präzise zusammen. Sie sind ein Puzzle unserer selbst. (K)ein Dorf wie jedes andere Lärchenau hat sie erfunden: eine Fahrstunde von Berlin entfernt, reizvoll in die märkische Landschaft eingebettet. Es habe, so warnt die Autorin eingangs, wenig zu bieten: "kein Schlachtendenkmal, keine alte Feldsteinkirche, kein berühmtes Restaurant, noch nicht einmal ein Storchennest". Allerdings gebe es ein bescheidenes Schloss mit barockem Park, das zu DDR-Zeiten als Lagerhalle für Landmaschinen diente und jetzt dank des neuen, alten Schlossherrn in frischem Glanz erstrahlt. Auch die Familie Konarske hat sie erfunden. Die protzige Villa des Arztes und Genforscher Gunter Konarske und dessen gelangweilter ehelicher Hausfrau Adele steht am anderen Ende der Dorfstraße. Dazwischen spielen sich Geschichten ab, die hingegen vor Authentizität geradezu strotzen. Der Anfang vom Ende Doch zurück zum Anfang: dem 6. September 1944. Da wird im verschlafenen Lärchenau Gunter Konarske geboren. Er ist der Sohn des 70-jähigen Doktor Rochus Lingott. Dem alten Charmeur und Klavierspieler war es gelungen, seine 20-jährigen Arzthelferin Rosie Konarske zu verführen. Am selben Tag wird einige 100 Kilometer entfernt im Dörfchen Katzgrün Adele Möbius geboren. Das Kind sei vom "Fiehror" (Führer) behauptet Adeles Mutter Liese Es könnte aber wohl ebenso vom geistig minderbemittelten Dorftrottel sein, wie gemunkelt wird. Beide Kinder wachsen ohne ihre Väter auf. Doktor Lingott wird vom Landgrafen denunziert, noch vor Gunters Geburt von der Gestapo abgeholt und stirbt im KZ. Auch Liese Möbius' Suche nach dem "Fiehror" hat sich bald erledigt. Wie es der Zufall will, begegnen sich die jungen Leute nach dem Krieg in Lärchenau. Sie heiraten. Während Adele zunehmend tagträumerischem Müßiggang verfällt, strebt Gunter noch hohen medizinische Ehren. Nicht weniger als Nobelpreisträger will er werden. Er, dem es schon als Kind gläserne Spritzenkörper, Ampullen und Messer angetan hatten, verschreibt sich ganz der Medizin. Nach dem Studium bleibt Ehefrau Adele da allenfalls als Versuchskaninchen interessant. Er experimentiert nicht nur mit menschlichen Stammzellen bei Mäusen, sondern spitzt seiner Frau zunächst ins Konfekt, später als angebliche Vitamine ein Verjüngungsmittel. Dass sie davon nicht genug kriegen kann, wird ihr Verhängnis. Auch Gunter entkommt letztlich der ländlichen Beschränktheit nicht. Jedem sein Fett Nur scheinbar dreht sich alles in dem Roman um die Konarskes. Genau genommen lebt, liebt und leidet darin ein ganzes Dorf. Und jeder kriegt sein Fett weg: Dorfdoktor Lingott genauso wie sein Sohn Gunter Konarske, dessen eitle Ehefrau Adele und deren einfältiger Sohn Timm, der spätere Fleischergeselle, der trottelige Dorf-IM Hanswerner Giersch, der gutgläubige LPG-Vorsitzende Helmar Eden oder der eingebildete Schlossherr Gutfried Graf von Lärchenau. Sie alle streben nach dem immerwährenden Glück, der ewigen Liebe, dem nie endenden Erfolg. Doch sie verbiegen und verfangen sich unaufhörlich in ihren entgleisenden Lebensentwürfen. Über mehrere Generationen verfolgt Kerstin Hensel diese Traumtänzereien - fußend auf verführerischen Mythen und Sagen. Wie in einem Brennspiegel bündelt die Autorin dabei die deutsche Geschichte der letzten 60 Jahre: die letzten Regungen des Faschismus, das Weltkriegsende, die russische Besatzung, die Zeit der DDR und die Jahre nach der Wiedervereinigung. Eine Groteske, wie sie das Leben nicht besser hätte schreiben können - höchst einfühlsam, hintergründig skurril und bizarr grobschlächtig. Ein Lesevergnügen der besonderen Art! Kerstin Hensel: Lärchenau, Luchterhand Verlag, München 2008, 446 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-630-87275-9
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