Kultur

Pipeline ins Stasi-Reservat

von ohne Autor · 12. Januar 2012

Wenn ein Film über die dunklen Seiten blühender Landschaften zu Betrachtungen über die Tierwelt verleitet, ist er zumindest eines: inspirierend. „Das System – Alles verstehen heißt alles verzeihen“ dreht sich um Macht und Ohnmacht eines Chamäleons.

 

Jener Lurch wird gemeinhin für seine Anpassungsfähigkeit bewundert. Einige Kulturen verehren das Chamäleon obendrein als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Spielfilmdebüt von Regisseur Marc Bauder begegnet uns ein Exemplar, das all diese Wesenszüge in sich vereint: Es ist der ehemalige Stasi-Agent und zum Energielobbyisten gewendete Konrad Böhm (Bernhard Schütz).

 

In dessen gedrungener Gestalt, dem markanten Schädel und den unablässig hellwachen Augen manifestiert sich jene kumpelige Lurchigkeit, mit der sich unter allen Umständen ein Platz an der Sonne finden lässt. Gerade die von Bernhard Schütz auf die Spitze getriebene Farblosigkeit macht diese Figur so bedrohlich.

 

Am aufstrebenden Gas-Pipeline-Standort Mecklenburg-Vorpommern scheint ohne Böhms Strippenzieherei nichts zu gehen.

Sein unverhoffter Kompagnon ist das genaue Gegenteil eines umtriebigen Machers: Wenn der Abend kommt, träumt Mike Hiller (Jacob Matschentz) auf seinem Rostocker Plattenbau-Dach vom wahren Kick. Den verschafft sich der 21-Jährige für kurze Momente bei Einbrüchen oder unter dem Einfluss von Bier und Cannabis. Und doch ist seine Sehnsucht, aus dem öden Alltag auszubrechen, unübersehbar.

 

Im Rausch der Tiefe

 

Böhm scheint dafür genau der richtige Motivator zu sein. Immer tiefer zieht er ihn in seinen Sumpf aus alten und neuen Seilschaften hinein. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass Hiller einer von ihnen wird. Gleichzeitig offenbart sich ihm ein düsteres Familiengeheimnis. Da ist es aus mit der Freude am schnellen Geld und den teuren Klamotten. Hiller häutet sich zum Racheengel. Doch erst als Böhm schmerzhaft erfahren muss, welches Spiel größere Tiere mit ihm treiben, liegt der Weg zurück für Hiller offen.

 

Coming of Age, Wirtschaftsthriller oder spätes Nachwende-Familiendrama: Es gibt viele Etiketten, mit denen sich „Das System“ versehen ließe. Im Einzelnen erfüllt der Film die damit verbundenen Erwartungen allerdings nur bedingt. Andererseits verdient es Respekt, dass all diese Elemente in einem stimmigen Erzählfluss von kompakten 92 Minuten Platz finden. Nichts wirkt gehetzt oder abgehackt, selbst für die unablässigen Außenaufnahmen des berühmt-berüchtigten „Hotels Neptun“ in Warnemünde – in der jüngeren Geschichte ein Schauplatz schillernder Ost-West-Verflechtungen – bleibt genügend Zeit.

 

Dennoch muss es erstaunen, dass ausgerechnet jener Handlungsstrang, der in die Gegenwart reicht – es geht um den Bau einer Ostsee-Gaspipeline von Russland nach Deutschland – dem ausgewiesenen Dokumentarfilmer Bauder („Der Topmanager“) recht blass, wenn nicht gar austauschbar gerät. Ist die Lobbyisten-Welt, zumal wenn frühere Devisenbeschaffer des SED-Regimes mitmischen, so banal? Oder bleibt das Gas-Thema ganz bewusst in der Schwebe, weil man sich vor den Anwälten Gerhard Schröders oder Wladimir Putins fürchtete?

 

Banales und Horror

 

Andererseits werden Horrorvorstellungen über Stasi-Opas bedient, die tief unter ihrer Dattsche Aktenberge horten und ihrer Wiederauferstehung in alten Ehren harren – nicht minder klischeehaft ist Bauders Blick auf ostdeutsche Lebenswelten in der unvermeidlichen Platte.

 

Am stärksten sind zweifellos jene Momente, in denen sich die psychologischen Reibeflächen zwischen Böhm, Hiller und dessen Mutter (Jenny Schily) voll entfalten. Auch die frühere Stasi-IM und angehende Kleinunternehmerin symbolisiert einiges, was sich mit „Gegenwart“ und „Vergangenheit“ umschreiben ließe. Elke Hillers Zukunft lässt sich dagegen weniger mit Händen greifen. Will sie jedoch eine haben, muss sie mit dem Vergangenen ins Reine kommen. Und das bedeutet, ihrem Sohn die Augen zu öffnen, mit wem er sich eingelassen hat.

 

Immer dann, wenn das Ungesagte – um nicht zu sagen: das Unsagbare – die Szene bestimmen, entwickelt „Das System“ eine bedrückende Intensität, wie sie in deutschen Gegenwartsproduktionen, zumal mit zeithistorischem Bezug, selten zu erleben ist. Elke Hiller, die vor allem für ihre neue Geschäftsidee leben will, sich stattdessen aber brutalstmöglich mit ihren späten DDR-Jahren herumschlagen muss, trägt die jahrelangen Sorgen, die Trauer, die Ratlosigkeit und die Scham in ihrem herben, aber auch zerbrechlichen Gesicht. Wenn sie ihre Schultern in dem abgetragenen Trenchcoat umklammert, scheint sie sich nicht nur das zugige Ostsee-Wetter, sondern auch jeglichen seelischen Ballast vom Leib halten zu wollen.

 

Neuer Mut

 

Und da ist dieser immer stärker werdende Wille, nicht länger vor Böhm und all jenen, die sich noch immer für allmächtig halten, zu kuschen. Der Moment, in dem die Restaurantfachkraft betrunken bügelt, ist der radikalste Ausbruch ihres inneren Kampfes und ein gleichsam überragender und verstörender Auftritt Jenny Schilys.

 

Für den Kampf um Selbstachtung ist es niemals zu spät – „Das System“ ruft uns diese zeitlose Moral in teils schwer verdaulicher Weise ins Gedächtnis.

 

 

Info:

Das System – Alles verstehen heißt alles verzeihen (BR Deutschland 2010), Regie: Mike Bauder, Drehbuch: Dörte Franke und Khyana el Bitar, mit Bernhard Schütz, Jacob Matschentz, Jenny Schily, Heinz Hoenig u.a., 92 Minuten.

 

www.das-system-verstehen.de

Kinostart: 12. Januar

0 Kommentare
Noch keine Kommentare