Kultur

Paten von Berlin

von Sonja Margolina · 24. April 2010
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Ein sowjetisches U-Boot strandet 1966 an der amerikanischen Ostküste und löst beinahe den Dritten Weltkrieg aus. So jedenfalls in der Hollywood-Satire "Die Russen kommen!". Doch anstatt sich Feuergefechte zu liefern, retten Amerikaner und Russen gemeinsam ein Kind vor dem Absturz vom Kirchturm. Durch Lachen zähmte die freie Welt ihre Ängste vor den unheimlichen Kommunisten.

Ein Vierteljahrhundert später und nach einer historischen Zäsur landen "die Russen" wieder, diesmal in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland, wie es Dominik Graf in einer spektakulären TV-Serie "Im Angesicht des Verbrechens" darstellt. Sie wird ab 27. April bei "Arte" ausgestrahlt.

Dunkle Kehrseite der Freiheit

Nach Ende des Kalten Kriegs wurde die sowjetische Besatzungsarmee aus Osteuropa abgezogen. Zur gleichen Zeit setzte jedoch eine Einwanderung unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen aus den GUS-Ländern nach Deutschland ein, die alle nun "Russen" hießen. Die Atomraketen waren weg, an ihre Stelle traten die Vorurteile über "die Russen". Nicht immer waren sie unbegründet, wie der Film über die organisierte Kriminalität im Nachwende-Berlin zeigt.

In der Realität bekam der gewöhnliche Deutsche jedoch von der Dimension illegaler Aktivitäten nicht allzu viel zu spüren. Harmlose Ameisenhändler mit karierten Einkaufstaschen, Elektronikgeschäfte, die die Kantstraße beidseits säumten, Straßenmusikanten - das alles hatte mit der Parallelwelt des Verbrechens, mit der Mafia nichts gemein. Der Staat bewahrte die ohnehin verunsicherte Gesellschaft vor den Schrecken, die in den Ermittlungsakten der Kripo verborgen blieben und mitunter Zweifel an seinem Gewaltmonopol aufkommen ließen. Allerdings war die organisierte Kriminalität in all ihren Formen die Kehrseite der neuen Bewegungsfreiheit.

Die wilden 90er-Jahre in der als Drehscheibe und Ostbahnhof Europas besungenen Metropole an der Spree sind vorbei: Die Leichen sind verscharrt, das kriminelle Geld ist gewaschen und gut angelegt. Manch ein Verbrecher hat seine verdiente Strafe bekommen. Nun entreißt der vielfach ausgezeichnete Film-Regisseur Dominik Graf die abgründigen Geschichten des Berlins der Wendezeit endlich dem Vergessen und vergegenwärtigt sie in einer zehn mal fünfzig Minuten langen TV-Serie.

Galerie der Gangster

Marek Gorsky, Sohn jüdischer Emigranten aus Riga, will den Mörder seines älteren Bruders finden und dessen Tod rächen. Deshalb wird er Ermittler. Unterstützt wird sein Rachefeldzug gegen den Killer Sergej Sokolow von dem für organisierte Kriminalität zuständigen LKA-Team aus dem Osten der Stadt. Er agiert gegen drei rivalisierende Banden der Russenmafia, die Zigarettenhandel, Drogen, Menschenschmuggel und Prostitution kontrollieren.

Immer wieder muss er am Rechtsstaat verzweifeln. Berlin erscheint im Film als Schauplatz, auf dem die Unterwelt ihre Macht mühelos durchsetzt und ihre Regeln gelegentlich der deutschen Gesellschaft aufzuzwingen weiß. Francis Coppolas ironisch zitierter Klassiker "Der Pate" (1972) steht dem Film wie selbstverständlich Pate.

Allerdings besetzt Graf wenige prominente Darsteller, und das tut der Handlung, ungeachtet mancher schauspielerischer Schwachstellen, gut. Denn dadurch tritt die soziale und ethnische Komplexität des Verbrechens umso deutlicher in den Vordergrund. Russische Juden, Rumänen, Polen, Russen, Ukrainer und Deutsche: Dem Zuschauer wird eine ganze Galerie von Mafiosi, Gangstern, Wüstlingen, integeren und korrupten Polizisten dargeboten.

Brillante Dialoge, das Berlinerisch der Polizeibeamten mit seinem trockenen Witz, eine ironische Aufhebung der ethnischen Klischees und Ressentiments - all das sprengt den Rahmen der deutschen Trivialkrimis und "Tatorte" und macht den Film zu einem Kunstwerk. "Im Angesicht des Verbrechens" von Dominik Graf ist ein genau recherchierter, spannender Actionthriller, der mitunter den Zuschauern den Atem stocken lässt. Er ist eine Hommage an das Berlin der 1990er Jahre und großes deutsches Kino der Nachwendezeit.

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