Offener Blick für die Vielfalt des Individuellen im scheinbar uniformen Grau
Der 1967 geborene Philosoph und Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bietet Sachliches kurzweilig dar. Er war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der
SED-Diktatur im Pozess der deutschen Einheit" und ist bereits seit einigen Jahren Projektleiter in der Forschungsabteilung der Birthler-Behörde. Diese Tätigkeit gestattet ihm einen guten Zugang
zum papierenen Material, das in aller Breite vor ihm liegt. Entscheidend für die Lesbarkeit seines Werkes ist aber etwas anderes.
Subjektivität aller Geschichtsbetrachtung
Geschichtsbetrachtung sei immer auch subjektiv geprägt, meint der Autor. Er fügt damit dem eigenen Betrachten ganz offiziell die subjektive Note hinzu, die auch Sach-Bücher unterhaltend
werden lassen kann - unterhaltend im Sinne des Dialogischen. Es wird möglich zu vergleichen, die Begrenztheit des eigenen Ausschnitts zu erfassen und damit doch wieder Ganzheit zu gewinnen.
Außerdem bringt die Angabe, zu wissen, dass man selbst von Vorannahmen ausgehe, die subjektiv geprägt seien, einen Sympathiebonus ein. Hier führt einer das Wort, der nicht meint, die absolute
Wahrheit zu verkünden. Angesichts eines Themas der Zeitgeschichte, das immer noch Emotionen aufrührt, ist dies wichtig, denn es gestattet jedem sich einzubinden, ob nun in Zustimmung oder
Gegensatz.
Objekt und Objektives
Untersucht werden soll, was zur Rasanz von Mauerfall und Vereinigung führte. Dazu zeichnet Kowalczuk ein DDR-Gesellschaftsbild im Kontext osteuropäischen Geschehens insbesondere der
Umwälzungen in der Sowjetunion ab Mitte der 80er Jahre. Daran schließt er die Schilderung der Vorgänge vom Frühjahr 1989 bis zur Leipziger Massendemonstration am 9. Oktober 1989 an. Um dann die
Zeitspanne zwischen Honeckers Rücktritt und den demokratischen Wahlen vom 18. März 1990 zu analysieren.
Im Ergebnis will der Autor auch verdeutlichen, warum in Zusammenhang mit den programmatischen Ereignissen häufiger von der Wende als von der Revolution. gesprochen wird.
Einstieg
Etwas überraschend beginnt das Buch mit einem Kommentar zu einem Fußballkommentar in der Tageszeitung "Junge Welt" und einem Disput über die Fußballsituation in der DDR. Vom Fußball wird
die Brücke zum Alltag, zur DDR-Politik in Reaktion auf Gorbatschow geschlagen.
Umgang mit Symbolfigur
In der Bewertung der wohl wichtigsten Figur des beschriebenen zeitgeschichtlichen Abschnitts, Michail Gorbatschow, macht der Autor zwar Wellenbewegungen von anfänglicher kritischer Distanz
des Westens bis hin zu Vergötterung in Ost und West und deren folgendem Verebben in neu polarisierenden Sichten aus, aber er selbst hängt keiner dieser Wellenbewegungen an. Vielmehr sucht er
herauszufinden, wo Gorbatschow sich verankerte, was ihn trug und was er als Einzelperson zu leisten vermochte und was eben nicht. Er versteht ihn als kommunistischen Repräsentanten, der das
Überlebte, Hemmende wegreformieren wollte, damit aber zwangsläufig das System aufbrechen musste, dem er selbst angehörte. Ohnehin hängt der Autor nicht Thesen an, die Einzelne als die Macher der
Geschichte ansehen.
Umgang mit Menschen
Kowalczuk reduziert Menschen nicht auf ihre Position, ihren Beruf, ihre Parteizugehörigkeit. Er analysiert ideologische Grundlagen und Thesen, denen sich die DDR verschrieben hatte. Er
findet heraus, was diese für den Einzelnen zur Folge hatten, schaut, was sich auf dieser Basis an Haltungen entwickelte, warum man etwas tat oder tun konnte. Daraus ergibt sich ein in sich sehr
differenziertes Bild. Das gilt für alle Bereiche. So beraubt er die "Hauptverwaltung Aufklärung" des Ministeriums für Staatssicherheit ihres besonderen Nymbus'. Gleichzeitig reißt er an, wie die
Staatssicherheit ein Instrument der Repression nach innen war, wie sie aber auch eines der Information für die Staatsführung sein wollte und sollte und wie gegebene Informationen zu
gesellschaftlichen Problemen nur geringe Beachtung fanden.
Was zum schnellen Zerfall führte und was lange am Leben erhielt, beides spielt in diesem Buch eine Rolle und wird dem, was war, eher gerecht als irgendwelche absoluten Wahrheiten.
Dorle Gelbhaar
Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, Verlag C. H. Beck München 2009, 602 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-406-58357-5
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.