Anna ist verzweifelt. Sind es Halluzinationen oder wird sie langsam verrückt. Fuhr da gerade ein Bus vorbei, verfolgt sie irgendeiner? Sie fühlt sich in der Ehe angespannt und im Beruf als
Ärztin überlastet. So sucht sie ihr Heil in der Flucht: zuerst vor dem Ehemann. Als dieser sich unmittelbar nach ihrem Auszug in eine eigene Wohnung einer anderen Frau zuwendet sogar ganz weit
weg: auf den Lofoten. Dort will sie die dunkle Jahreszeit verbringen und auf das Nordlicht warten.
Giske ist ein "Deutschenbalg", Tochter einer Norwegerin und eines deutschen Besatzungssoldaten. Wie die meisten dieser Kinder wird sie der Mutter weggenommen. Sie kommt zuerst zu
Pflegeeltern, die sie misshandeln, und dann ins Kinderheim, wo es ihr auch nicht viel besser ergeht. Erst nach vielen Jahren gelingt es ihr, ihre Mutter ausfindig zu machen. Doch vom Vater fehlt
weiterhin jede Spur. Alle Dokumente und Fotos wurden von Familienangehörigen vernichtet
Verschlungene Wege
Die beiden Frauen treffen sich auf dem entlegenen Hof, der Giskes Familie gehört. Giske lebt allein dort. Sie ließ den Mann ziehen, der sie liebte, aber die ewige Dunkelheit auf den Lofoten
nicht ertragen konnte. Umso erstaunter ist sie, dass Anna hierher kam, um eben diese dunkle Jahreszeit zu erleben und zu sich selbst zu finden. Noch dazu hat Anna die Aufzeichnungen ihres Vaters
mitgebracht, der als Wehrmachtssoldat im Krieg auf den Lofoten stationiert war. Gelingt es den beiden Frauen herauszufinden, wo Annas Vater lebte und wer Giskes Vater ist?
Mit "Nordlicht" gelingt Melitta Breznik eine ganz andere, höchst persönliche Sicht auf die Kriegsereignisse 1944 in Norwegen: sowohl auf die Besatzer, meist junge deutsche Soldaten, als
auch auf die Frauen, die Kinder mit ihnen hatten. Annes Vater erzählt zu Hause wenig über diese Zeit, doch das Wenige zeugt davon, dass die Lofoten ihn faszinierten. Giskes Mutter war als junge
Frau glücklich dort. Den Vater ihrer Tochter hat sie sehr geliebt und doch akzeptiert sie später, was ihr und ihrem Mädchen angetan wurde. Giske hingegen kämpft ein Leben lang um ihre Identität,
obgleich diese ihr in jungen Jahren nichts als Schmerz bescherte. Und Anne schließlich findet ihre Identität auf den Lofoten. Ein alter Nachbar von Giske ist es, der zum Schluss anhand vergilbter
Fotos Licht ins Dunkel bringt. Spät, aber nicht zu spät.
Manchmal ist er schwer, den verschlungenen Wegen der beiden Frauen zu folgen, dann nämlich wenn die Ich-Erzählerin von einer zur anderen wechselt und nicht sofort klar ist, wessen
Tagebuchaufzeichnungen man gerade vor sich hat. Ganz abgesehen davon, wenn die Erzählebene verlassen wird und plötzlich eine "Sie" auftaucht. Aber auch das klärt sich meist nach ein paar Sätzen.
Und es ändert nichts daran, dass diese Verbindung von Privatem und Historischem, Familien- und offenen Geheimnissen, gewohnten Rollen und ungewohnten Wendungen letztlich überzeugt.
Dagmar Günther
Melitta Breznik: Nordlicht, Luchterhand Verlag, München 2009, 252 Seiten, 17,95 Euro, ISBN 978-3-630-87287-2
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