Kultur

Nicht nur personifiziertes Mittelmaß

von Dagmar Günther · 20. Dezember 2007

Schon vor zwei Jahren legte Simon Sebag Montefiore eine sehr umfangreiche Biografie "Stalin am Hof des roten Zaren" vor. Er hatte zahlreiche Reisen in die ehemalige Sowjetunion unternommen. Nach fast zehnjähriger Recherche erscheint nun ergänzend sein zweites Buch "Der junge Stalin". Gekonnt rekonstruiert Montefiore darin aus umfangreichem Quellenmaterial, Augenzeugenberichten und Geheimdienstunterlagen Stalins Werdegang vor dessen Machtantritt.

Entgegen der geringschätzigen Meinung Trotzkis, Stalin sei nur personifiziertes Mittelmaß, zeigt der Autor ein differenzierteres Bild auf. Und dementiert zugleich die Auffassung, Stalin hätte vor seinem politischen Aufstieg eine unbedeutende Rolle innerhalb der bolschewistischen Partei gespielt. Das Interessante an diesem Buch ist, dass es sich eben nicht einfach an vorhandene bzw. vereinfachte Erklärungs- und Deutungsversuchen hält.



Autodidakt und Weiberheld


Montefiore bestimmt Stalin von seiner ambivalenten Persönlichkeit her. Immer wieder betont er dessen starkes Charisma, welches ihm selbst von seinen Gegnern eine gewisse Bewunderung einbrachte.

`Sosso`, wie Stalin auch von seinen Freunden genannt wurde, begeisterte sich schon in jungen Jahren für Literatur und schrieb Gedichte. Dass er Zugang zu höherer Bildung bekam, war hauptsächlich das Verdienst seiner Mutter. Wenn es nach den Plänen dieser ehrgeizigen Frau gegangen wäre, so wäre Stalin Priester geworden.

Auch später noch hat er sich im Selbststudium vieles angeeignet und seine Genossen zum Lesen und Lernen angehalten. Selbst die deutsche Sprache soll Stalin gepaukt haben.

Was der spätere Sowjetführer gern in seinem Personenkult wegließ, sind Fakten, die ihn zwar nicht unbedingt sympathisch erscheinen lassen, aber dafür als Mensch zeigen. Montefiore porträtiert auch den Weiberhelden Stalin, der nichts anbrennen ließ und eine starke Anziehungskraft auf Frauen besaß.

Besondere Aufmerksamkeit erregte Stalin mit der Verführung einer Dreizehnjährigen. Dieses Ereignis war so brisant, dass Chruschtschow 1956 den KGB dazu ermitteln ließ.

Bolschewik, Verbrecher und Mörder

Montefiores schildert Stalins Werdegang lebensnah und detailreich. Da bisher nur wenig über Stalins frühe Jahre bekannt war, ist dies besonders spannend. Als Bolschewist bahnt sich Stalin seinen eigenen Weg und tritt schon sehr früh als Agitator der Bolschewiki auf. Um Geld für die bolschewistische Partei zu beschaffen, inszeniert Stalin sogar Überfälle. Vermeintliche Verräter an der Revolution werden auf sein Geheiß hin umgebracht. Daher -resümiert Montefiore - sind Stalins Verbrechen in der vorrevolutionären Zeit weitaus umfangreicher als bisher angenommen.

Das Buch liest sich fast wie ein Abenteuerroman: Das Leben im Untergrund, kriminelle Machenschaften und ständiges Misstrauen gegenüber den Genossen prägten Stalins Persönlichkeit und Vorgehensweise bis zu seinem Tod.

Manchmal lassen zu viele Details den roten Faden der Handlung verloren gehen. Es fehlt zudem eine Einordnung in die politischen und historischen Rahmenbedingungen des vorrevolutionären Russlands. Dennoch legt Montefiore ein interessantes und empfehlenswertes Buch über die Vorgeschichte eines Diktators und Initiators des "Großen Terrors" vor.



Edda Neumann


Simon Sebag Montefiore: Der junge Stalin, Fischer Verlag, 2007, 24,90 Euro, 544 Seiten, ISBN-13: 978-3100506085

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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