Es gibt wohl keinen anderen Politiker, der Willy Brandt so nahe stand wie Egon Bahr. So war es nicht überraschend, dass zahlreiche Interessierte zum komplett ausgebuchten zweiten Teil der
Veranstaltungsreihe "Zeitzeugen erzählen von Willy Brandt" des Willy-Brandt-Hauses Lübeck kamen, um den politischen Weggefährten zu hören.
"Hier ist Geschichte ganz lebendig", sagte Jürgen Lillteicher, Leiter des Hauses zur Einführung. Und schon die ersten Sätze Egon Bahrs ließen die Aura des früheren Bundeskanzlers und
gebürtigen Lübeckers im Saal buchstäblich greifbar werden. Bahr blieb bei seinem Vortrag als Person im Hintergrund, ließ Raum zur Erinnerung an den Mann, mit dem ihn ein mehr als dreißigjähriger
gemeinsamer politischer Weg und eine aufrichtige Freundschaft verbanden.
Der Kampf um nationale Souveränitat
Der Begriff der "Nation" sei zentral in der politischen Arbeit Brandts, so Bahr, und der 8. Mai ein passendes Datum, um sich mit diesem oft vergessenen Aspekt auseinanderzusetzen. "Ich habe
viele Texte Willy Brandts nochmals gelesen. Dabei fallen drei Themen auf. Die Begriffe Links, Freiheit und Nation." So sei Brandts Schrift "Verbrecher und andere Deutsche" von 1946, die sich gegen
die Kollektivschuldthese richtete, ohne die Verantwortung des deutschen Volkes zu verharmlosen, der erste Akt im Kampf für und um Deutschland. Auch in der Zeit als Berliner Bürgermeister und später
als Bundeskanzler setze sich Brandt stets für die größtmögliche nationale Souveränität unter den Siegermächten ein. Es ging ihm darum, als Nation selbständiger und unbequemer zu werden und deutsche
Vorstellungen zur Lösung der deutschen Frage zu entwickeln.
Die Grenze des Erträglichen
Ein Weg, so machte der Vertraute Bahr deutlich, der Brandt immer wieder an die Grenzen des Erträglichen brachte. "Es war der Wunsch des verstoßenen Sohnes, wieder von seinem Land aufgenommen
zu werden." Doch mit diffamierenden Kampagnen versuchten die politischen Gegner dies immer wieder zu verhindern. "Erst die spätere Einheit des Landes heilte dann auch die verletze Seele Willy
Brandts", sagte Bahr.
Die Nation in Europa
Im Gespräch mit Uli Exner, Chefredakteur der Lübecker Nachrichten, äußerte sich Bahr auch zu seinem Verständnis der Nation. Frieden - die Spitze der Werteskala Willy Brandts - sei auch heute
nur in einem gerechten Europa und einer gerechten Welt möglich. Egon Bahr plädierte in Lübeck in diesem Zusammenhang nachdrücklich für die Nation. "Denn nur ein guter Deutscher kann auch ein guter
Europäer sein." Deutschland müsse seine nationalen Interessen wie jeder andere Staat in Europa und der Welt noch selbstverständlicher als bisher vertreten. "Gerade viele Jugendliche suchen im
Internet eine andere Welt, sie wollen vom Vaterland nichts wissen", so Bahr. "Aber sie verlieren dabei auch etwas, das man nicht mit Euro oder Dollar kaufen kann."
Susanne Lutz
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