Bunt, rau und schräg: Vieles, was Menschen mit Berlin verbinden, tritt in Kreuzberg besonders deutlich zutage. Doch was steckt dahinter? „Canim Kreuzberg“ zeigt, wie Menschen, die dort eine neue Heimat fanden, ihre Umgebung prägen. Und was dieser Mikrokosmos mit dem Rest der Republik zu tun hat.
Was bleibt vom Mythos des alternativen und multikulturellen Quartiers, wenn die Mieten steigen und sich kommerzielle Ramsch-Lokale ausbreiten?
Zwei Regisseurinnen,die in Kreuzberg groß geworden sind, haben sich zusammengetan, um ihre Sicht auf den Stadtteil zu beschreiben. Und nicht nur das. Es ist eine Liebeserklärung. Doch „Canim Kreuzberg“ (türkisch in etwa für „Kreuzberg, mein Schatz“), ist keinesfalls mit einer rosaroten Brille zu verwechseln. Canan Turan und Asli Özarslan geht es vielmehr darum, Migranten-Biografien jenseits der Klischees vorzustellen. Also jene Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, die das, was den Kiez auch bei Touristen und Spekulanten so beliebt macht, mit aufgebaut haben. Und die sich zugleich selbstbewusst ein neues Leben in einem Land schufen, indem sie seinerzeit als „Ausländer“ angekommen waren. Ebenso zeigen die beiden, wie jene Kreuzberger ticken, die bereits in dritter Generation mit einem „Migrationshintergrund“ leben.
„Canim Kreuzberg“ besteht aus zwei Kurzfilmen. In „Kiymet“ beschreibt die 1984 in der Türkei geborene Turan, warum Kreuzberg für sie ein „Stück Familie“ ist, wie sie sagt. Sie erzählt die Geschichte ihrer Großmutter. Anfang der 70er-Jahre verlässt Kiymet Özdemir mit ihrem Mann, einem Lehrer, und den Kindern aus politischen Gründen die Türkei in Richtung Berlin. Dem gesellschaftlichen Engagement hält sie die Treue. Am 1. Mai aalt sie sich nicht mit einem Cocktail im Görlitzer Park, sondern demonstriert für die Rechte der „Gastarbeiter“, wie ein Schwarz-Weiß-Foto beweist. Im Urban-Krankenhaus gehört sie dem Betriebsrat an.
Ein Leben lang selbstbewusst
Doch das Eheleben steht unter keinem gutem Stern. Weil ihr Mann sie zu erschießen droht, gibt ihm die Großmutter den Laufpass. Heute lebt sie wieder in ihrem thrakischen Dorf am Meer. Die Leidenschaft, für eine gerechtere Gesellschaft zu streiten, hat sie an ihre Enkelin weitergegeben. „Kreuzberg heißt für mich, dass es weniger Konfrontation zwischen Migranten und der sogenannten Mehrheitsgesellschaft gibt als anderswo, hier ist alles viel durchmischter“, sagt Turan über Zuhause, das sie auch als ein großes Experimentierfeld für Ideen und Lebensstile sieht: „Das darf durch die zunehmende Verdrängung nicht kaputtgemacht werden.“
Mit der Oma, die sie in ihrer ersten Regiearbeit jenseits aller Kontexte als selbstbewusste Frau porträtiert, kehrt sie in jenen grauen Neubaublock zurück, den diese vor 40 Jahren mit ihrer Familie als erste Mieter bezog. Es sind berührende, leise Momente, die Vertrautheit jenseits von Sentimentalität spüren lassen. Gleichsam sensibel und lakonisch erzählt Turan von einem Schicksal der ersten Einwanderer-Generation, das schon für sich genug Stoff für einen Langfilm abwirft. Genau den bereitet sie nach eigener Aussage vor.
Welches Bild Kreuzberger mit Wurzeln im Ausland von sich haben und wie sich daraus Kunst machen lässt, schildert Özarslan, 1986 als Tochter türkisch-kurdischer Eltern in Berlin geboren, in ihrem Dokumentarfimdebüt „Bastarde“. Während „Kiymet“ von einer subtilen Emotionalität lebt, dominiert hier eine intellektuelle, aber keineswegs verkopfte Bestandsaufnahme. Am Beispiel des Theaters im Ballhaus Naunynstraße – der bundesweit ersten und einzigen von Migranten betriebenen Bühne mit einem Repertoire in deutscher Sprache – erzählt die Ludwigsburger Filmstudentin davon, wie sich Regisseure und Schauspieler ungeschminkt und (selbst-)ironisch mit Identitäten und Identität hinter Schlagworten wie „Migration“ und „Postmigration“ befassen. Und damit zeigen, warum „ihre“ Kultur eben auch „deutsche“ Kultur ist. Dafür ist ihnen kaum etwas zu brachial oder gar peinlich: Immer wieder stehen Laien-Darsteller als „Kanaken“ und „Bastarde“, um ihren Alltag und ihre Sicht auf das Einwanderungsland Bundesrepublik zu reflektieren: und damit dem Publikum den Spiegel vorhalten.
Denken ohne Akzent
„Nur weil man mit Akzent spricht, heißt das nicht, dass man auch mit Akzent denkt“, sagt der Regisseur Nurkan Erpulat in dem kurzen Film. Vor zwei Jahren inszenierte er am Ballhaus das „Stück Verrücktes Blut“. Dafür zeichnete ihn die Zeitschrift „Theater heute“ als besten Nachwuchsregisseur aus.
Keine Frage: „Canim Kreuzberg“ wirft einen sehr wohlwollenden Blick auf seine Protagonisten und Schauplätze. Dennoch gelingt es den Filmemacherinnen fast durchweg, im Kleinen immer auch das Große zu erzählen. Das sollte genügen, um Kopf und Herz jener Kinogänger zu erreichen, die aus der Graswurzelperspektive einen Blick hinter einen Mythos werfen wollen, der auch im nunmehrigen Party-Kiez nicht nur rund um den 1. Mai immer wieder übermächtig in Erscheinung tritt.
Info: „Canim Kreuzberg“ (Deutschland/Türkei/Großbritannien 2012), Buch und Regie: Asli Özarslan und Canan Turan, 50 Minuten.
Ab sofort im Kino