Wie fühlt sich eine Generation, die den Anschluss zu verlieren droht?„Die Vermissten“ erzählt von der Suche eines Vaters nach seiner Tochter, die genug hat von den Schieflagen in der Welt der Erwachsenen. Doch der karge Surrealismus im Pampa-Ambiente wird dem Thema kaum gerecht.
Die EU-Länder sind gewarnt: Jeder Fünfte zwischen 15 und 24 Jahren findet keinen Job. Die Arbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe ist doppelt so hoch wie in allen anderen, so die Internationale Arbeitsorganisation ILO. In Spanien und Griechenland ist jeder zweite unter 25 Jahren ohne Job. In Deutschland liegt die Quote bei knapp über acht Prozent. Doch auch hier wächst die Unzufriedenheit. Prekäre Verhältnisse drücken sich nicht nur in Arbeitslosenquoten aus, sondern auch in Beschäftigungsbedingungen.
Was macht also das jugendliche Prekariat? Der Regisseur Jan Speckenbach entwirft in „Die Vermissten“ eine beunruhigende Vision: Die Jugendlichen verlassen die Welt der Erwachsenen und schaffen sich ihre eigene – sie verschwinden buchstäblich.
Derlei Hintergründe sind in „Die Vermissten“ allerdings nur zu erahnen. Das, was Speckenbach in zermürbend langen Einstellungen zeigt, wird wiederum mit mehr Bedeutung aufgeladen, als dieser Film letztendlich zu sagen hat. Ein großes, wichtiges Thema wird in eine kleine, karge Form gepresst
Papa wacht endlich auf
Ein Anruf reißt Atomingenieur Lothar aus seinem Alltag: Seine 14-jährige Tochter, die er zuletzt als Kleinkind gesehen hat, ist von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden, wie etliche andere Altersgenossen Obwohl tief in Sorge, befasst sich Lothar zunächst widerwillig mit der Suche nach Martha, schließlich muss er sich dafür wieder seiner kratzbürstigen Ex-Frau annähern. Und doch bedeutet Marthas Verschwinden das Ende für Lothars Amnesie. Ob und wie sich seine Tochter mit jener ominösen Protestbewegung eingelassen hat, erforscht er nun bis zur Selbstaufgabe. Bis er selbst aus seinem bisherigen Leben verschwindet
Es scheint, als würde sich Lothar zum ersten Mal in seinem Leben mit den Gedanken der nachfolgenden Generation werden. Das wiederum bringt unangenehme Konfrontationen mit sich. Des Nachts strandet er mit ein paar Jugendlichen in seinem Auto. Als Inspekteur von Atomkraftwerken, die allein billige Energie für mehr Wachstum sichern sollen, hat er dabei wenig zu lachen. „Wie können wir den Wohlstand bewahren?“, fragt er in die Runde. „Alle über 60 umbringen“, brummt ein Halbwüchsiger. Lothar lakonisch: „Dann wäre ich auch bald dran.“ Und das ihm, der im trendigen halblangen Mantel und mit blonden Strähnen die Illusion ewiger Jugend verkörpert!
Nach weiteren rätselhaften Begegnungen lernt er Lou kennen. Sie wird zu seiner Gefährtin auf seiner Reise durch eine Gesellschaft, die sich einerseits in Auflösung befindet, aber davon nicht die geringste Notiz zu nehmen scheint. Jeder döst in einem Trott vor sich hin.
Zombies auf den Straßen
Am Ende erreichen die beiden die mysteriösen Kolonie der Verschwundenen, wo sie auch Martha vermuten. Minderjährige haben ein Dorf in Beschlag genommen, wo sie, im ständigen Abwehrkampf gegen Bürgerwehren, in einträchtiger Anarchie vor sich hin leben. Doch Lothars Suche ist damit längst nicht abgeschlossen.
Ein virulentes Thema, eingedampft zu einem surrealen Drama, dazu die mühsame Kontaktaufnahme zwischen einem suchenden Individuum mit einer Gruppe, die ihn nahezu komplett ablehnt: Im Grunde genommen ist Speckenbachs Ansatz lohnenswert und birgt viel Dynamik. Gerade eine entrückte Ästhetik kann verborgene Innenwelten, aber auch reale Konflikte offenlegen. Von diesen Attributen zeigt Speckenbachs fiktionales Langfilm-Debüt, das bei der Berlinale uraufgeführt wurde, allerdings wenig.
Einerseits holpert die Handlung gewaltig, andererseits verläuft die Spurensuche mitunter derart vordergründig, dass man sich an Kinderkrimi-Hörspiele aus den 1980er-Jahren erinnert fühlt. Es ist ehrenwert, wenn Speckenbach, wie er erklärt hat, sämtliche Jugendproteste der letzten Jahre verarbeiten wollte. Doch weder die ästhetischen noch die erzählerischen Mittel werden dem angedachten großen Wurf gerecht. Einzig André M. Hennicke gelingt es, neugierig auf seine Figur Lothar zu machen.
Stimmige Ödnis
Doch nach der ersten Spannung, die sich aus dessen Geworfensein ergibt, läuft auch dieser Effekt ins Leere, Nichtssagende – rätselhafterweise gerade in jenen Momenten die, so scheint es, besonders die Tragik des Geschehens unterstreichen sollen. Wenn die Kids durch ihr kleines Reich geistern, hat das weniger von Apokalypse als von einer Schultheatergruppe, die den Zombie-Klassiker „Die Nacht der lebenden Toten“ einstudiert.
Immerhin gibt es einige Szenen, in denen der Herbst seine ganze Garstigkeit zeigt und das Grau der Landschaft und der Häuser mit den drögen Gestalten der niedersächsischen Provinz zu einer scheintoten Einheit wird. Diese äußerst stimmig eingefangene Eintönigkeit bedrückt gerade durch ihre fast schon dokumentarische Handschrift. Doch wer von einem der alarmierendsten Trends unserer Zeit erzählen will, muss hinter die Fassaden blicken.
Info: „Die Vermissten“ (Deutschland 2012), Regie: Jan Speckenbach, Drehbuch: Jan Speckenbach und Melanie Rohde, mit André M. Hennicke, Luzie Ahrens, Sylvana Krappatsch, Jenny Schily, Sandra Borgmann, u.a., 86 Minuten.
Ab sofort im Kino