von Barbara Kerneck
In der grellen Mittagssonne herschen 24 Minusgrade. Der Schnee quietscht unter den Füßen. Willkommen in Butka, einen halben Tag Autofahrt entfernt von der Stadt Jekaterinburg (zu Sowjetzeiten
Swerdlowsk). Wir haben Februar 1997 und im Ural wütet die Grippe. Boris Jelzin bezeichnet dieses Dorf hier als seinen Geburtsort.
Butka wurde vor über dreihundert Jahren als Wehrdorf errichtet. Verbannte und Flüchtlinge des Zarenreiches durften sich niederlassen, wo sich das Gebirge zur Ebene absenkt, weil ihre Leiber
hier als Schilde gegen die Pfeile der Steppenbewohner gebraucht wurden. Viele Worte um das Dorf macht der Präsident Russlands in seinen Memoiren nicht. Er erwähnt, daß seine Eltern, Nikolai Jelzin
und Klawdija Starygina, dort heirateten und den Ort 1932, ein Jahr nach seiner Geburt, verließen. Warum, wird nicht gesagt.
Nicht viel anders als heute mag es hier zu Tolstois Zeiten ausgesehen haben. Schiefe Holzhäuser mit riesigen Kachelöfen, Zimmerlinden hinter Eisblumen auf Doppelfenstern. Zum Gespräch bereit
erklärt hat sich Taissja Bersenjowa, eine Kusine von Boris Jelzins Mutter. Zur Tür ihres Häuschens muss man sich zwischen gewaltigen Brennholzstapeln durchschlängeln. Im Moment erholt sie sich
gerade von der Grippe.
Sonst spinnt und wäscht die alte Dame noch eigenhändig. Auf dem kleinen Tischchen vor ihr prangt ein Foto des präsidialen Verwandten. "Immer wenn ich es beim Staubwischen einmal wegnehme,
stellt sie es flugs wieder an seinen Platz", erklärt ihre Schwiegertochter. Der Präsident und sein Bruder Michail, erläutert Taissja Bersenjowa , seien - abgesehen von ihren eigenen Kindern - ihre
nächsten lebenden Verwandten. Als er noch Parteisekretär in Swerdlowsk war, ist sie manchmal zu Boris Nikolajewitsch hingefahren
Großvater als Klassenfeiind verfolgt
Taissja Bersenjowa fackelt nicht mit der Antwort auf meine Frage, warum die Eltern mit dem kleinen Boris 1931 die Gegend hier verließen: "Erst wurde der Großvater Ignati als Kulak verbannt,
und dann mußten Klawdija und Nikolaj auch fort. Hier waren ihnen alle Wege versperrt. Womöglich hätte man auch sie noch zu des Teufels Großmutter verschleppt". Auch und gerade die jüngeren
Familienmitglieder hätten schwer darunter zu leiden gehabt, dass Boris Jelzins Großvater um 1930 als "Kulak", als "reicher Großbauer" und "Klassenfeind" verfolgt wurde, berichtet sie.
"Und dabei hat Ignati doch niemanden ausgebeutet. Er wohnte sogar mit vier kräftigen Söhnen und deren jungen Frauen in unserem Nachbardorf, in Basmanowo, in einer einzigen kleinen Hütte".
Hier belebt sich das geschwächte Frauchen und kichert: "Viele Leute fanden das irgendwie unsittlich. Dabei ging es den Jelzins recht gut, weil sie arbeitsam waren. Am meisten hat man ihnen
vorgeworfen, dass sie mit eigenen Händen eine Mühle gebaut hatten. Ignati wurde dann in ein forstwirtschaftliches Arbeitslager bei der Stadt Serow gebracht. Er war schlau genug, um von dort
auszureißen. Viele andere, aber - an dieser Stelle senkt die alte Dame ihre Stimme auf ein Flüstern - sind an Hunger gestorben".
Auf Taissja Bersenjowas Rat, fahre ich die dreizehn Kilometer über ein Brückchen in den Nachbarort Basmanowo. Die selbe Straße - in entgegengesetzte Richtung - mußte Ignati zurücklegen,
nachdem man ihn unter Hohn und Spott mit einem Teil seiner Familie von seinem Grundstück und auf einen Wagen getrieben hatte. Als sei dies erst gestern geschehen, schildert mir diese Szene eine
halbe Stunde später eine zweite Cousine, Serafima Gomsikowa.
Selbst die Kuh wurde ihnen genommen
Als achtjähriges Mädchen hatte sie das Baby Boris Jelzin manchmal auf dem Arm gehalten. Wie der spätere Präsident, war sie eine Enkelin des geächteten Ignatij. Bei der Erinnerung an das Los
des Großvaters steigt die ganze Bitterkeit eines diskriminierten Kindes in ihr auf: "Damals haben sie mir im Dorf alles mögliche nachgerufen. Dann mußten wir aus unserem Haus, weil wir angeblich
mitten im Dorf den guten Gesamteindruck verdarben. Wir siedelten uns am Waldrand an. Immer hatten wir Hunger. Eine Weile hielten wir noch eine Kuh, aber dann sind sie gekommen und haben meiner
Mutter auch die Kuh weggenommen. Sie versuchte sie mit bloßen Händen zu verteidigen - umsonst." Serafima Gomsikowa weint drauflos: "Meine Mutter ist dann durch all den Kummer jung gestorben".
Wie sich herausstellt, bestand das inkriminierte kapitalistische Verhalten Ignatis nicht nur im Bau der Mühle, man warf ihm auch vor, daß er zwei von Pferden gezogene Erntemaschinen erfand
und benutzte.
Auf dem Rückweg mache ich noch einmal halt in Butka. Dort setzten sich die Eltern des ehemaligen Präsidenten als Rentner zur Ruhe und kauften sich ein Blockhäuschen. Boris Nikiajewitschs
Vater, Nikolaj Ignatjewitsch, betreute als Bauleiter die Errichtung der Butkaer Schule. In der befindet sich während meines Besuches ein kleines Heimatmuseum mit einer Boris-Jelzin-Ecke.
Der Schule geht es schlecht. Seit drei Monaten haben die LehrerInnen kein Gehalt mehr zu Gesicht bekommen, an neue Schulmöbel oder Lehrmaterialien ist seit Jahren nicht zu denken. Dem Dorf
geht es wie der Schule.
Privatisierung kam nicht gut an
Die Beschließerin des Jelzin-Heimat-Museums, eine Veteranin der pädagogischen Arbeit, kritisiert die unter Jelzin vollzogene Privatisierung: "Die aus der Kolchose, haben ihre Wohnhäuser zum
Eigentum bekommen. Wenigstens haben die noch irgendetwas vom Staat mitgenommen. Leute wie ich aber, die vorher schon ein eigenes Häuschen besaßen, bekamen nichts dazu. - Hätte man uns nicht als
Ausgleich irgendetwas anderes geben müssen?"
Lieber soll es allen schlecht gehen, als nur einigen besser - diese Mentalität der Nachbarn hatte Großvater Ignati Jelzin aus dem Dorf ins Straflager getrieben.
Barbara Kerneck war von 1988 bis 2000 Moskau-Korrespondentin mit eigenem Büro. Ihre 1991 geschriebene Jelzin-Biographie wurde mehrfach aufgelegt.
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