Es war in einer Theaterkantine. Da erzählte eine der Kantinenangestellten dem Regisseur Szabolcs Hajdu eine abenteuerliche Geschichte von einer Frau, die ins Ausland verschleppt und dort zur Sex-Sklavin gemacht wurde. Hajdu ahnt: diese Geschichte will er erzählen. Zuerst schreibt er eine Kurzgeschichte, später ein Drehbuch. Dann geschieht Jahre lang nichts.
Inzwischen dreht Lukas Moodysson "Lilja 4-Ever", noch andere Filme zum Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution kommen in die Kinos. Noch einen weiteren, das ist Hajdu klar, braucht niemand. Also kommt er auf eine recht verwegene Idee: er macht aus dem Sozialdrama ein Märchen.
Auch hier erzählt eine Frau, Mona (Orsolya Török-Illyés), die schlimme Geschichte. Sie erzählt sie auf dem Jugendamt, um ihr Kind zurück zu bekommen: der eigene Vater hat sie belogen und verkauft, sie wird in England zur Schau gestellt, von einem Zuhälter gekauft, zur Prostitution gezwungen, eingesperrt, geschlagen und mit Heroin vollgepumpt. In ihrer Erinnerung aber ist ihr Zuhälter Pascal (Shamgar Amram) ein Einradfahrender Clown, der Vater ein liebenswerter Alter, der den Verkauf der Tochter im letzten Augenblick am liebsten rückgängig machen möchte und der Puff ist eine aufgeräumte Bibliothek, die "Bibliothèque Pascal".
In den schmucken Zimmern des Bordells leben die britischen Intellektuellen ihre Phantasien aus. Mona mit kahlrasiertem Haar und in Tarnuniform wird zu einer modernen Jeanne d'Arc, die sich mit auswendig gelernten Versen dagegen wehrt, dass ihr die Männerklamotten ausgezogen werden, während im Nebenraum die Rollenspiel-Gefährtinnen wahlweise die Lolli-lutschende Lolita mit Strohhut und Bikini geben, die auf dem Badewannenrand sitzend mit Unschuldsmiene die Füße baumeln lässt, oder die Latex-Desdemona Shakespeares, die in einer Sado-Maso-Phantasie die Strafe für einen Ehebruch bekommt, den sie nie begangen hat.
Mona hält durch. Sie hat eine Tochter, zu der sie zurück will. Am unmittelbarsten gelingt ihr das in der Erinnerung. An den Kindsvater etwa, einen hübschen Mann im weißen Anzug, der sich einfach im Sand eingrub, wenn die Polizei nach ihm suchte, und dem man beim Träumen zuschauen konnte. Monas Visionen macht Hajdu zu opulenten Spektakeln mit fallenden Blättern, tanzenden Schmetterlingen und Blumenkränzen im Haar.
Hier wird der Kitsch ausgerufen, hier wird ein praller, farbiger Gegensatz in Bollywood-Manier geschaffen, der die Wirklichkeit übertönt. Ganz so wie der scheppernd-schiefe Radetzkymarsch, der die penetrante Heiterkreit verbreitet, mit der Monas Papa am Ende strammen Schritts in das Bordell einmarschiert, um sein Töchterchen zu retten.
Die Realität ist bei alledem nur eine Andeutung hinter den ausgeklügelten Kamerafahrten András Nagys, der die Erinnerungsszenen mit gelblichem Sommerlicht aufwärmt, seine Kamera durch das Panoptikum der "Bibliothèque Pascal" streifen oder um sandsteinerne Säulen schleichen lässt.
Der Verbrecher-Ehemann, der Mona geschwängert und im Stich gelassen hat, und die dekadenten Oberschichten-Briten, die sich Zwangsprostituierte in erniedrigenden Sexspielchen zu Gemüte führen, verschwinden in sublimen Träumereien zum staunenden Refrain des Beatles-Songs "Penny Lane": "very strange..."
Der Ungar Szabolcs Hajdu, der im Studio von Regielegende Béla Tarr drehen drufte, war sich früh darüber klar, dass er diese Geschichte in Rumänien ansiedeln würde, einem Land, in dem orthodoxe Priester mit dem schwarzen Audi fahren und Gänse segnen und die Polizei sich mit einer Packung Instant-Puddingpulver bestechen lässt, wie er selbst sagt. Einem Land, in dem Hellseherei und Zaubertränke genauso florieren wie der Menschenhandel.
Sein Film romantisiert und weicht der Konfrontation scheinbar aus. Gerade damit führt er aber sehr zielstrebig auf Mona, seine Protagonistin, hin. Ihre Wünsche, ihr Beharren auf das Fabelhafte ist keine Weltflucht, sondern ihre stärkste Waffe gegen das aufreibende Erinnern. Das Märchen, dem Hajdus magischer Realismus Raum gibt, ist ihr Märchen und sie erzählt es gegen die Wirklichkeit.
Zwar sagt Hadju im Interview zu "Bibliothèque Pascal", er möge es, wenn seine "Hauptfigur den schwächsten Charakter darstellt". Sie sei dann wie "ein schwarzes Loch in mitten des Films". Glauben mag man ihm das nicht. In Wahrheit ist seine Mona, zu Teilen nach den Erzählungen der Kantinenangestellen, zu Teilen nach dem Modell der Fantine aus Victor Hugos "Les Misérables" gestaltet, nämlich nicht schwach,sondern mit einer ganz eigenartigen Stärke gerüstet.
Kein Elend kann ihr etwas anhaben, weil da immer noch ein Fluchtweg ist, ein Türchen zur Phantasie, durch das sie entschlossen hindurch geht. Für die Hauptrolle der tapfer-träumenden Mona hat der Regisseur dann auch eine starke Frau besetzt, die gleiche, wie bei allen seinen fünf Langfilmen - seine Ehefrau.
Bibliothèque Pascal, Regie: Szabolcs Hajdu, Ungarn / Deutschland 2010, 111 Min., Kinostart: 9.6.