Eindringlich hat der frühere polnische Dissident und Publizist Adam Michnik auf die Bedeutung von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik hingewiesen: "Die Fähigkeit, sich mit den dunklen Episoden des eigenen Erbes zu konfrontieren, ist für jedes Volk ein Prüfstein für die demokratische Reife." Michniks Statement stammt aus dem Jahr 1994. Im gleichen Jahr wurde Berlusconi erstmals Regierungschef.
Apologie des Faschismus
Misst man das Geschichtsbild, das Berlusconis Koalition über die italienischen Massenmedien verbreitet an Michniks Statement, legen sich Schatten über Italien. Die Apologie des Faschismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, warnt Mattioli in seinem Buch "'Viva Mussolini!' Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis".
In einer Republik, die wie kein anderes Land der westlichen Hemisphäre über Jahrzehnte einen antifaschistischen Gründungsmythos pflegte, verwundert dieser Trend. Doch genau in diesem Selbstverständnis könnte ein Teil des Problems liegen, so Mattioli.
Das Ende des antifaschistischen Republikanismus
Als Berlusconi 1994 Regierungschef wird, war das Parteiensystem der Ersten Republik gerade im Korruptionssumpf versunken. Den antifaschistischen Republikanismus, der bis auf die Neofaschisten von allen politischen Strömungen getragen wurde, riss es größtenteils mit sich. Populisten vom Schlage Berlusconis oder der fremdenfeindlichen Lega Nord, mit der der Cavaliere mehrere Kabinette bildete, stießen in das Vakuum, das die etablierten Parteien hinterließen.
Weil obendrein der Sozialismus in Europa abgewirtschaftet hatte, schien konservativen Revisionisten und dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano, dessen Nachfolgepartei Alleanza Nazionale später in der Berlusconi-Partei Popolo della Libertà (Volk der Freiheit) aufging, der Zeitpunkt gekommen, mit der ungeliebten "antifaschistischen Meistererzählung", die viele untrennbar mit der maroden "Parteienherrschaft" (Partitocrazia) identifizierten, aufzuräumen.
Geschichtsrevisionismus via Massenmedien
So machten sich bereits nach dem erstem Wahlsieg von Berlusconis Mitte-Rechts-Bündnis Politiker auf nationaler wie kommunaler Ebene daran, führende Köpfe und Kämpfer der faschistischen Republik von Salò, die nach Mussolinis Sturz 1943 von deutschen Gnaden gegründet wurde, zu rehabilitieren.
Neben der Krise der antifaschistischen Deutungshoheit über die Geschichte betont der Autor Berlusconis Mediendominanz, die die Ausbreitung des Revisionismus begünstigt. Besonders seit dessen zweiter Regierungsbildung im Jahr 2001 schreitet die öffentliche Banalisierung der faschistischen Herrschaft auch im Fernsehen voran. Weder die privaten Kanäle des milliardenschweren Unternehmers noch die staatliche Rai tragen zur historischen Aufklärung bei.
Rehabilitierung des Faschismus stützt Berlusconi
Mattioli stellt zwischen der wohlwollenden Berichterstattung über die Regierung in Rom und der verharmlosenden Darstellung von "guten Faschisten" in Fernsehfilmen ganz bewusst einen Zusammenhang her: All dies diene der Pflege eines antilinken Zeitgeistes, der die Rechten an ihren von Korruptions- und Sexaffären gebeutelten Patron Berlusconi binden und ihn damit an der Macht halten soll.
Der stört sich ohnehin nicht daran, dass seine Anhänger bei Wahlkampfauftritten "Duce!"-Rufe anstimmen oder eine Ministerin bei einem Carabinieri-Fest den rechten Arm zum "römischen Gruß"
hebt. Lieber warnt er unaufhörlich vor "linken" Verschwörungen gegen seine Person und seine Politik.
Ideologischen Missbrauch der Geschichte aufhalten
Manche Leser mögen inhaltliche Redundanzen und die Tatsache monieren, dass Mattioli kaum Versuche unternimmt, der Resonanz des erinnerungspolitischen Rollbacks in der italienischen Gesellschaft empirisch nachzuspüren. Demgegenüber macht das reiche Quellenmaterial deutlich, welches Ausmaß die revisionistischen Debatten unter den intellektuellen und politischen Akteuren mittlerweile nehmen.
Mattioli zeigt aber auch Gegenkräfte, darunter Historiker die, dem einlullenden Mainstream zum Trotz, die Erforschung des italienischen Faschismus vorantreiben. So appeliert das Buch daran, den ideologischen Missbrauch der Geschichte aufzuhalten. Und zwar gerade jetzt, wo sich Italien auf die Feiern zum 150-Staatsjubiläum vorbereitet.
Aram Mattioli: "'Viva Mussolini!' Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis", Ferdinand Schöningh Verlag, 2010, ISBN 978-3-506-76912-1