Die Uraufführung von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ erschütterte das gemütliche deutsche Wirtschaftswunderland im Jahr 1963 bis ins Mark. Noch nie zuvor war die Rolle des Papstes im Zweiten Weltkrieg hinterfragt worden - schon gar nicht von Seiten der Literatur. Hochhuth aber griff eine verdrängte und tabuisierte Problematik auf und machte sie zum Gegenstand seines Stückes, das Kunst und Realität miteinander verband wie kaum ein anderes Schauspiel der Zeit.
Unnachgiebiger Kritiker
Das sorgte für Furore. Südlich des Mains wurde "Der Stellvertreter" lange nicht aufgeführt. In Paris konnte es nur unter Polizeischutz gespielt werden. Als sich Bundeskanzler Ludwig Erhard zwei Jahre nach der Uraufführung eine solche literarische Aufarbeitung zeitpolitischer Themen verbat und Hochhuth einen "Pinscher" nannte, war der Skandal perfekt.
Seit diesem explosiven Debüt umgab den jungen Dramatiker die Aura des unnachgiebigen Kritikers, der es verstand, die bundesdeutsche Gesellschaft immer wieder auf - bewusst oder unbewusst - nicht wahrgenommene Unstimmigkeiten hinzuweisen und die Öffentlichkeit mit seinen Entlarvungen zu polarisieren. So wurde sein Stück "Soldaten" (1967) in Großbritannien zunächst verboten, gegen den Autor wurde ein Haftbefehl ausgestellt. Sein Roman „Eine Liebe in Deutschland“ (1978) führt zum Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsident Hans Filbinger. Aber das ist ja schon lange her!
Mehr Werkschau als Biografie
Wenn es nach Heinz Puknus und Norbert Göttler ginge, hat Hochhuth nie an Spürsinn, sein Werk nie an Brisanz eingebüßt. „Störer im Schweigen“ untertiteln sie ihre gemeinsame Hochhuth-Biografie, die aufgrund der spärlichen Angaben zur Privatperson des Dramatikers aber wohl eher als Werkschau zu betrachten ist. „Ohne Abschwächung“ sei Hochhuth ebender „unliebsame Störer und Aufstörer, der sperrige Provokateur“, der er schon immer war, geblieben: „Etwas wie 'Altersmilde' war hier von vornherein nicht zu erwarten“, resümieren die Autoren.
Sie nahmen Hochhuth vor fünf Jahren schon einmal unter die Lupe, damals für Rowohlt, nun für Herbert Utz. Die Zusammenhänge sind nicht zu übersehen: Wer die rororo Monographien des Reinbeker Verlagshauses kennt, wird Übereinstimmungen im Aufbau mit der neuen Werkschau leicht ausmachen können: zuerst der Fließtext, anschließend die Anmerkungen, erst dann die Zeitleiste und zuletzt die Wortmeldungen berühmter Weggefährten.
Brisante Themen, literarische Schwächen
Doch nicht nur diese frappierende Ähnlichkeit legt nahe, dass es eben mal wieder an der Zeit war, Hochhuth anlässlich seines runden Geburtstages im April zu ehren: Puknus' und Göttlers Betrachtungen enden allerdings, keineswegs aktuell, um das Jahr 2003. So genau lässt sich das nicht sagen, denn am Ende heißt es, Hochhuth habe noch „scharfe Attacken“ gegen Merkel und Sarrazin geführt. Worum es sich dabei handelte, beantworten die Biografen nicht, ebenso wenig wie sie Schwächen oder gar Fehltritte des Autors einräumen.
So bleibt nur am Rande erwähnt, dass Hochhuths Stücke derart dokumentarisch und langatmig angelegt sind, dass sie sich kaum für die Bühne eignen. Kontroversen zwischen Autor und Regisseur waren deshalb stets vorprogrammiert. Auch Hochhuths literarische Schwäche wird nur als kurzes Zitat angeführt. Dabei gelang es Hochhuth so gut wie nie, künstlerisch mit der Brisanz seiner Themen mitzuhalten. So wurde etwa die fünfte Szene des „Stellvertreters“, die in Auschwitz angesiedelt ist, kaum gespielt. Die Unzeigbarkeit dieses Ortes erkannte der Autor erst später.
Die goldene Ära ist längst vorüber
Und überhaupt: die Brisanz. Zuletzt erregte Hochhuth in den frühen Neunzigern mit dem Abwickel-Stück „Wessis in Weimar“ breite Aufmerksamkeit. Alles Spätere ist nur noch kalter Kaffee. Nicht umsonst lehnten der „Spiegel“ und die „Zeit“ 2002 ein etwas unzugängliches Gedicht ab, in dem Hochhuth ziemlich oberflächlich mal gegen die Banken, mal gegen die SPD wetterte. Die letzten Schlagzeilen machte der streitbare Autor eher im Zusammenhang mit dem in Hassliebe verbundenen Berliner Ensemble denn mit Literatur.
Ohne seine Leistungen herabzuwürdigen, lässt sich doch feststellen, dass Hochhuths goldene Ära längst vorüber ist. Niemand kann auf Dauer den Nerv der Zeit treffen. Hätten Puknus und Güttler das erkannt, wären sie dem Mensch Hochhuth um einiges näher gekommen.
Heinz Puknus/Norbert Göttler: Rolf Hochhuth. Störer im Schweigen, Herbert Utz Verlag, München 2011, 192 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-8316-4080-5
erhielt 2008 den Literaturpreis des Landes Sachsen-Anhalt, 2011 erschien sein erster Roman, „Folgen einer Landpartie“.