Kultur

Kunst ist Ent-Täuschung

von Birgit Güll · 27. August 2011
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Die riesigen Industriestandorte des Ruhrgebiets, in denen einst hart gearbeitet wurde, bieten heute Raum für Kunst und Kultur. Die 2002 gegründete "Ruhrtriennale" machte die beeindruckenden Stahlkonstruktionen zu Aufführungsorten von Musiktheater, Literatur und Tanz. Alle drei Jahre wechseln die künstlerischen Leiter der anfangs reichlich umstrittenen "Ruhrtriennale".

Die Debatte um die hohen Kosten und die Notwendigkeit eines derartigen Großfestivals stand zunächst im Vordergrund, doch den Intendanten Gérard Mortier und Jürgen Flimm gelang es mit ehrgeizigen Programmen, Publikum und Presse zu überzeugen. Inzwischen hat sich das Festival etabliert und ist international hoch geschätzt.

Seit 2009 ist nun Willy Decker der künstlerische Leiter der "Ruhrtriennale". Der renommierte Opernregisseur inszenierte an allen großen deutschen Opernhäusern und feierte auch international Erfolge. In diesem Jahr geht die dreijährige Intendanz des 60-Jährigen an der Ruhr zu Ende und mit ihr ein Programm, das unter dem Titel "Urmomente" Fragen der Religion in den Mittelpunkt stellte. Der Opernregisseur Decker widmete sich 2009 dem Judentum, ein Jahr später dem Islam, 2011 schließt er den Zyklus mit dem Buddhismus ab.

Dabei geht es Decker nicht um religiöse Regeln oder Institutionen. Er interessiert sich für frühe spirituelle Erfahrungen, interessiert sich dafür, wie sie das menschliche Bewusstsein und damit die unterschiedlichen Kulturen geprägt haben. Die gigantischen Industriehallen geben ihm Raum, "grundlegende Fragen unseres Lebens wieder neu stellen zu können", so Decker.

Was ist Liebe?

Bühnenbildner Wolfgang Gussmann arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit dem Regisseur zusammen. Gemeinsam haben sie die großen Opernhäuser der Welt bespielt. Deckers "Ruhrtriennale"-Programm habe ihn gereizt, sich als Bühnenbildner und künstlerischer Berater zu beteiligen, erklärt er. Das Konzept entwickelten die beiden gemeinsam.

Gussmann bezeichnet sich als Atheist, Decker ist praktizierender Zen-Buddhist. Doch in "Urmomente" geht es nicht darum, religiös zu werden oder die beste aller Religionen herauszufiltern. Er wolle "einen Dialog mit verschiedenen spirituellen Traditionen führen", erklärte Decker am Beginn seiner Intendanz. Im Zeitalter von Glaubenskriegen und einem völlig überhitzten Diskussionsklima ist das wohl bitter nötig. "Mich interessieren die menschlichen Dimensionen. Was ist Liebe? Ganz existenzielle Fragen, die in den einzelnen Weltanschauungen unterschiedlich beantwortet werden. Es gibt so viele Gemeinsamkeiten, da ist es traurig, dass es soviel Unverständnis gibt", sagt Gussmann.

Illusionen aufklären
Decker will den gesellschaftlichen Dialog anstoßen: Kunst sei Ent-Täuschung, Aufklärung und Richtigstellung verzerrender Illusionen. 2009 eröffnete er die Beschäftigung mit dem Judentum mit Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aron". Eine spektakuläre Eröffnung: Zwei riesige Zuschauerblöcke stehen sich gegenüber, eine Bühne scheint es nicht zu geben. Plötzlich wird aus dem Publikum Gesang laut, geben sich die Schauspieler zu erkennen.

Sie sitzen mit im Publikum. Musik ertönt. Allmählich bewegen sich die Tribünen auseinander, dazwischen entsteht eine Bühne. Vor den Augen des verwunderten Publikums öffnet sich auch eine Seitenwand und gibt den Blick auf das Orchester frei. Deckers spektakuläre Inszenierung von Schönbergs Oper über das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, liefert Einsichten über die Schwierigkeit, Glauben zu vermitteln und nutzt dazu die Möglichkeiten, die ihr die Halle eröffnen.

Das Erlebnis der Hallen
Gussmann berichtet von "extremen Herausforderungen". Denn: "Wir müssen die Halle mitwirken lassen, mitnutzen, was sie bietet - an Ästhetik, an Räumlichkeit, an Sicht und Weite." Im klassischen Theater, dem Guckkastentheater, sei klar, wo das Publikum sitzt, wo Bühne und Orchester sind. Die aufgelassenen Industriehallen geben das nicht vor. Das bringe Freiheiten, habe aber auch Tücken, sagt Gussmann: "Es gibt keinen Schnürboden, keine Untermaschinerie wie sonst an großen Opernhäusern.

Alles, was wir brauchen, müssen wir bauen, herstellen oder anmieten." Für Decker "war das Erlebnis der Hallen hier ein Wendepunkt als Regisseur." An Orten zu inszenieren, wo Menschen richtig hart gearbeitet haben, sei etwas völlig anderes als der plüschige Theatersaal.

2010 inszenierte Decker in der Bochumer Jahrhunderthalle das persische Epos "Leila und Madschnun". 1188 vom persischen Dichter Nizami verfasst, adaptieren es der deutsche Autor Albert Ostermeier und der palästinensisch-israelische Komponist Samir Odeh-Tamimi für die Bühne. Ostermeier bettet die Geschichte von zwei Liebenden, die nicht zusammen sein können, in eine Rahmenhandlung von einem heutigen Krieg, wie er in Afghanistan geführt wird.

Geschützdonner lässt die Halle erzittern, Einschläge von Granaten dröhnen in den Ohren. Ein Verwundeter erträumt das berühmte Epos der islamischen Welt. Beeindruckende Bilder. Und doch: Deckers Inszenierung von "Leila und Madschnun" lässt viele ratlos zurück. Allerdings ist die Eröffnung nur ein Teil der "Ruhrtriennale". Andere Inszenierungen, Literaturabende, Diskussionen und Musik widmen sich ebenfalls dem Thema Islam, etwa 130 Veranstaltungen sind es insgesamt.

In einem Zeitungsinterview erklärte Decker: "Das ist eine große Gefahr in unserem Dialog mit dem Islam, dass wir die Verzerrungen islamischen Denkens durch einzelne Gruppierungen eins zu eins setzen für den Islam. Wir werden in den nächsten Jahren einen ganz entscheidenden Dialog führen müssen, aber er darf sich nicht erschöpfen in den Themen Minarett und Kopftuch. Wir brauchen einen tieferen Blick."

Tristan und der Buddhismus
In diesem Jahr widmet sich der Intendant dem Buddhismus. Die Leere der Hallen soll Ausgangspunkt sein für den zentralen Begriff der Leere im Buddhismus. Wieder wird Decker kein Folklore-Theater aufbieten. Das zeigt schon die Wahl der Oper, die er 2011 in der Jahrhunderthalle inszeniert: Richard Wagners "Tristan und Isolde".

Er wird Wagner beeinflusst vom Buddhismus präsentieren und möchte zeigen, dass die radikale Ausschließlichkeit von Liebe und Tod in "Tristan und Isolde" letztlich ein Loslösen von Ort und Zeit ist - und damit ein zentrales Thema im Buddhismus anspricht, heißt es in der Ankündigung. Premiere feiert die Neuinszenierung von "Tristan und Isolde" am 27. August. Gussmann betont: "Es geht weniger um Ästhetik, Geschmack, Dekor. Das sind die Zusatzmittel, mit denen man Kunst transportiert. Das soll aber kein Selbstzweck sein. Relevant ist immer ein menschheitsbezogener Inhalt."

RUHRTRIENNALE 2011 vom 26. August bis 9. Oktober Tristan und Isolde
Musikdrama von Richard Wagner
Regie: Willy Decker
Ort: Jahrhunderthalle, Bochum
Daten: 27., 31. August / 3., 9., 13., 17. und 20. September

www.ruhrtriennale.de

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Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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