Kultur

Kuma: Verschleierte Schwächen

von ohne Autor · 9. August 2013

Was halten Menschen aus, deren Weltbild ins Wanken geraten ist? Das packende Drama „Kuma“ schildert die Umbrüche in einer türkischen Familie in Wien und wagt sich auf das verminte Terrain der Mehrfachehe.

Die Übersetzung des türkischen Namens Ayse bedeutet „lebensfroh“. Doch Lebensfreude strahlt die etwa 20-jährige Ayse am Tag ihrer Hochzeit nicht gerade aus. Stattdessen wird sie von Fatma und deren Töchtern eingehend im stillen Kämmerlein gemustert: von der einen liebevoll prüfend, von den anderen vorsichtig bis misstrauisch. Kein Wunder, möchte man denken. Es ist der Tag, an dem Ayse einen Mann ehelichen wird, dem sie womöglich nie zuvor begegnet ist. Es ist Fatmas Ehemann Mustafa. Ayse soll dessen Zweitfrau (türkisch: Kuma) werden.

Kuma

Kaum hat sich der Zuschauer halbwegs im Durcheinander des anatolischen Bergdorfs im Hochzeitsfieber orientiert, schickt Regisseur Umut Dağ Ayse in eine völlig fremde Welt. Das Ziel der Reise heißt Wien. Dort soll sie ein Teil der Familie werden. So haben es sich Fatma und Mustafa zumindest gedacht. Deren Töchter sträuben sich dagegen. Nur die beiden Söhne akzeptieren ihre neue Quasi-Mutter. Kann das gut gehen?

Beim Wort „Mehrfachehe“ schrillen hierzulande schnell die Alarmglocken. 500.000 davon soll es in der Türkei, vor allem in den strukturschwachen Landesteilen, geben. Vielen gilt sie als Symbol für Frauenverachtung und Rückständigkeit. Andere sehen sie als Teil einer Tradition, die den Frauen ein selbstständigeres Leben ermöglicht, als viele Kritiker vermuten.

Von vorgestern

Dağ, der, das darf an dieser Stelle erwähnt werden, 1982 als Sohn türkisch-kurdischer Eltern in Österreich geboren wurde, enthält sich jeglicher Wertung. Sein Interesse richtet sich vor allem darauf, zu zeigen, wie sich die Dynamiken innerhalb der Familie entwickeln, nachdem Ayse in der Wiener Altbauwohnung mit eingezogen ist. Vor allem die Töchter lassen die anfangs so demütige Ayse mit den dunklen Kulleraugen und dem strengen Kopftuch, von den Tanten als „Juwel“ begrüßt, jederzeit spüren, dass sie für sie jenes Vorgestrige verkörpern, das sie für sich stets abgelehnt haben. Gleichzeitig gewinnt der Identitätskonflikt jener jungen Frauen zwischen Tradition und Individualismus an Fahrt.

Im Zentrum steht allerdings das Verhältnis zwischen Fatma und Ayse. Als Fatma eine Chemotherapie beginnt, wird klar, warum sie Ayse so liebevoll aufgenommen, ja sogar auf die Hochzeitsnacht mit ihrem geliebten Gatten im heimischen Wohnzimmer vorbereitet hat: Die junge und gesunde Frau soll an ihrer Stelle die Familie zusammenhalten, was nach Fatmas Lesart bedeutet, die Kinder zu beschützen und den Haushalt zu schmeißen. Und gänzlich ihren Platz einzunehmen, sollte der Krebs obsiegen.

Kontrollverlust

Doch es kommt anders: Nicht Fatma, sondern Mustafa wird der Familie urplötzlich entrissen. Es ist dies, salopp gesagt, Fatmas erster Kontrollverlust. Und eine dieser Scharaden, die den Zuschauer zunächst verwirren, aber zugleich auf eine grundlegende Wende einstimmen. Nicht nur, was Ayse betrifft, entgleiten Fatma die Dinge immer mehr. Weil das Geld knapp ist, arbeitet Ayse nach der Geburt ihres Sohnes im türkischen Supermarkt. Der Kontakt zur Außenwelt macht sie selbstbewusster, auch in Liebesdingen. Als Fatma von Ayses Affäre mit einem Kollegen erfährt, liegt ihr Weltbild, und damit auch das bisschen Sicherheit, woran sie sich klammerte, in Trümmern. Hatte sie wirklich geglaubt, die letztendlich eben doch lebenslustige Frau würde ewig in stiller Trauer um einen Mann verharren, der ihr Vater hätte sein können? Wie dem auch sei: Rettung verspricht sie sich allein dadurch, Ayse zu verstoßen.

Lässt sich von muslimischer Polygamie erzählen, ohne in Klischees abzurutschen? Dağ ist das gelungen, weil sein Film erstrangig um eine Mutterfigur kreist, die es gewohnt ist, nach außen hin den Schein zu wahren und keine Schwäche zu zeigen. So wird die Mehrfachehe zu einem letzten Ausweg, den zu gehen auch Fatmas unbedingter Wunsch ist. Männer treten nicht als Bestimmer auf, sondern werden vor allem in ihrer Krisenhaftigkeit, aber auch voller Sehnsüchte, dargestellt. In dem atmosphärisch dichten Erzählfluss bleiben sie ohnehin eher Randfiguren.

Dass der Fokus fast ausschließlich auf den Mikrokosmos einer Familie gerichtet bleibt, die sich neu erfinden muss, gewinnt das, wovon „Kuma“ erzählt, etwas Universelles. Gleichzeitig ist es ein dramaturgisch kluger Schachzug, dem doppelten Clash der Kulturen im Innenleben dieser sozialen Keimzelle nachzugehen, anstatt immer wieder das Leben außerhalb der Community in den Blick zu nehmen, um den Kontrast zur  „Mehrheitsgesellschaft“ zu betonen. In dieser spannenden und berührenden Geschichte bekommen jene Menschen endlich den erzählerischen  Raum, den ihr komplexer Alltag erfordert.


Info: Kuma (Österreich 2012), ein Film von Umut Dağ, mit Nihal Koldas,Begüm Akkaya, Vedat Erincin, Muratahn Muslu u.a., 93 Minuten. Ab sofort im Kino

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