Die organisierte jüdische Einwanderung nach Argentinien begann - nach vereinzelten Anfängen um 1860 - gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Mit Unterstützung des deutsch-jüdischen Philanthropen Baron Maurice Hisch gründeten die vor den Pogromen im zaristischen Rußland und aus Rumänien Geflohenen zahlreiche landwirtschaftliche Siedlungen in verschiedenen Provinzen und verbanden sich mit der lokalen Bevölkerung und ihren Traditionen.
Sechstgrößte jüdische Gemeinde
Es entstand die legendäre Figur des "jüdischen Gaucho", der zwar anfänglich noch jiddisch sprach, die religiösen Speisegesetze aber nach und nach aufgab. Weitere Einwanderungswellen aus einer Vielzahl von Ländern folgten bis Ende der 40er Jahre. Noch heute ist die jüdische Gemeinde in Buenos Aires die größte in Lateinamerika und darüber hinaus die sechstgrößte der Welt.
Diese bei uns nahezu unbekannte Geschichte veranschaulicht die Ausstellung in einer Reihe von klug und beziehungsreich konzipierten Installationen. Den Rahmen bildet ein Zeitstrahl von 1860 bis zur Gegenwart, der die jüdische Einwanderung in den Kontext argentinischer und weltweiter Ereignisse einordnet. Drei tragende Säulen aus Büchern mit dem Motto "Ohne Erinnerung bricht alles zusammen" geben symbolisch Halt und verbinden das Leitmotiv der Erinnerung mit dem Medium Buch.
Im Mittelpunkt aber steht die "Buchhandlung der 200", eine Sammlung von Büchern, die sich zweihundert jüdisch-argentinischen Persönlichkeiten widmen - und eine bunte Mischung: Gelehrte, Künstler, Psychologen, Verleger, Radio- und Fernsehgrößen - sogar ein Bergsteiger ist dabei. Die Auswahl, die symbolisch zu verstehen ist, gibt jeweils auf der vorderen und hinteren Umschlagseite eines Bandes näheren Aufschluß über Biographie und Verdienste des Porträtierten. Wer das Buch aufschlägt, erlebt indes eine Überraschung: Alle Bücher enthalten den gleichen allgemein gehaltenen Text - eine ausgesprochen pfiffige Lösung, die mit List und ohne Klage auch auf die Not fehlender Übersetzungen hinweist.
Alle Opfer einschließen
Unmittelbaren Bezug auf die " Bibliothek", die Micha Ullman für den Bebelplatz entworfen hat, nimmt die "Unterirdische Bibliothek II". Sie will eine ins Positive gewendete Fortsetzung darstellen. Denn die bei Ullman ja unwiderruflich leer bleibenden Regale, die in einem unterirdischen und hermetisch abgeschlossenen Raum untergebracht sind und den rund 20 000 Titeln Platz bieten könnten, die am 10. Mai 1933 verbrannt wurden, sind in der Ausstellung dicht mit vielen bunten Büchern gefüllt. "Billy" von Ikea und alle Bände der edition suhrkamp - so der erste Eindruck.
Demonstriert soll werden, dass Heinrich Heines berühmter Satz eben nicht das letzte Wort darstelle: "Wir füllen die Regale mit Büchern als absolutes Zeugnis, daß die Verbrennung von Büchern
und Menschen ihr letztes Ziel nicht erreichen konnte", formuliert das Begleitbuch zur Ausstellung. Das ist hochgemut gedacht, nimmt aber Ullmans Denkmal seinen Ernst und seine Überzeugungskraft.
Eindrucksvoll ist dagegen der "Pfad der Erinnerung": Ein Fußweg, der Gunter Demnings Stolpersteine, die seit 1992 vor den Wohnungen der Deportierten verlegt werden, mit den Erinnerungszeichen
verbindet, die in Argentinien an die 30 000 während der Miltärdiktatur Verschleppten und an die Opfer des Bombenattentats von 1994 auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA in Buenos Aires erinnern:
Erinnerung sollte nämlich alle Opfer einschließen.
Jüdisches Leben in Argentinien
Beiträge zum 200-jährigen Jubiläum
Im Zentrum steht die »Buchhandlung der Erinnerung«: Sie erzählt anhand ausgewählter Biografien argentinischer Persönlichkeiten die Geschichte eines Landes, das die kulturelle und ethnische
Vielfalt seiner Einwohner als Grundpfeiler der eigenen Identität versteht.
Laufzeit der Ausstellung: 23. Juli bis 10. Oktober 2010
Wo: Jüdisches Museum Berlin, Lindenstr. 9-14, 10969 Berlin, Eric F. Ross Gallery
Eintritt: mit dem Museumsticket (5 Euro, erm. 2,50 Euro)