Kultur

Karratsch

von Hannes Wader · 13. Dezember 2011

Franz Josef Degenhardt starb am 14. November. Am 3. Dezember wäre der Liedermacher und Schriftsteller 80 geworden. Sein Wegbegleiter Hannes Wader erinnert sich an den Freund, den er Karratsch nannte.

Während ich diese Zeilen im Gedenken an meinen verstorbenen Freund Franz Josef Degenhardt schreibe, haben mich erneut traurige Nachrichten erreicht. Zwei weitere bedeutende Künstler meines Metiers,  Georg Kreisler und Ludwig Hirsch, sind tot. Das Ableben dreier großer deutschsprachiger Liedermacher im Abstand weniger Tage wirkt bestürzend auf mich. Welch ein düsterer und bedrückender November 2011. Aber lassen Sie mich zu meiner Erinnerung an F.J. Degenhardt zurückkehren.

1964 dachte ich doch tatsächlich, in der Bundesrepublik der einzige zu sein, der selbst geschriebene Lieder – es waren gerade mal zwei – zur Gitarre sang; durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass es damals den Begriff Liedermacher noch gar nicht gab und eine entsprechende Szene, die sich im heutigen Sinne hätte vernetzen können, erst in Ansätzen vorhanden war. Dann hörte ich zufällig im Radio Franz Josef Degenhardt, den ich bis dahin nicht kannte. Das Lied, das er sang, hieß Rumpelstilzchen. Für mich ein coup de foudre. Ich war beglückt festzustellen, dass ich mit meiner Leidenschaft, mich in selbst verfassten Liedern auszudrücken, kein isolierter Spinner war. Mehr noch, ich ahnte, dass ich von nun an Teil einer gerade erst aufkeimenden – sagen wir – kulturellen Bewegung sein würde. Einer Bewegung mit einem Meister vom Kaliber Degenhardts an der Spitze.

Mir, als dem zehn Jahre Jüngeren, hat es nie was ausgemacht, Franz Josefs überlegene Meisterschaft anzuerkennen, die er in seiner enormen künstlerischen Produktivität, in seinen Auftritten und Liedern wie auch in seinen Prosa-Werken immer wieder bewies. Ich habe immer noch seine Worte im Ohr: „Hannes, du musst jeden Monat ein Lied schreiben.“ Das war 1966, als wir uns auf  Burg Waldeck kennen lernten und anfreundeten. Ich gestehe, das ist mir seitdem nur selten gelungen. Karratsch, so durften bzw. sollten Franz Josefs Freunde ihn nennen, Karratsch konnte das.

Falsche Zerwürfnisjahre
In der für mich turbulenten und äußerst irritierenden Nach-68er Zeit versuchte ich mich auch politisch an ihm zu orientieren. Mitbekommen habe ich, dass ihm, der sich trotz seines Wahlaufrufs für die DKP immer noch als Sozialdemokrat verstand, sein Rausschmiss aus der SPD 1971 schwer zugesetzt hat. Vielleicht hatte er gehofft, diese seinerzeit noch so mächtige Organisation würde wohl einige radikal-linke Abweichungen von der Parteilinie selbstbewusst und großzügig dulden. Erst sieben Jahre später – übrigens nach mir – entschloss er sich, der DKP beizutreten, deren Mitglied er bis zum Schluss blieb. Mir hat Karratsch meinen Austritt aus der DKP – obwohl mein Entschluss, mich nie mehr an eine Partei zu binden, meine sozialistische Grundüberzeugung nicht berührt – übelgenommen. 

In einem Interview  bezeichnete er die Ausgetretenen als Pack. Das wiederum nahm ich ihm übel. „Funkstille“ zwischen uns war die Folge. Während dieser Zeit habe ich unsere Begegnungen, die Lieder, die Gespräche, die spannenden Diskussionen sommers unter dem alten Wildkirschenbaum in seinem Garten oder bei mir zu Hause sehr vermisst. Jahre später schrieb ich ihm dann doch – tief erschrocken über die Nachricht, er würde aus Krankheitsgründen nie wieder auftreten und auch in dem Wunsch, mich wieder mit ihm zu versöhnen – einen Brief.  Wir haben dann beide gemerkt, wie sehr uns daran lag, uns wieder zu vertragen. 2006 besuchte  er mich trotz seiner Geschwächtheit zusammen mit seiner Frau Margret, um mir seine gerade erschienene CD „Dämmerung“  zu bringen. In dem gleichnamigen Lied heißt es in einer Strophe:

„Die Flieger zu den Urlaubsparadiesen betonen die Stille hier unten nur.Dem Musiker-Freund, der mich heute besuchte, dröhnen sie doch gefährlich im Ohr. Nach vielen falschen Zerwürfnisjahren, schenkte er mir sein Exemplar von Horaz. Wir lagen uns lange in den Armen. Das Buch war einst im Besitz von Karl Marx.“

Verneigung vor dem Meister
Gelebte politisch-ethische Grundsatztreue, überragendes künstlerisches Talent, profundes gesellschaftstheoretisches Wissen (Marx), analytischer Verstand, brillant und ruhelos: Menschen, die wie Karratsch über solche Eigenschaften verfügen, muss man bewundern. Das allein macht sie aber noch nicht liebenswert. Man könnte sich sogar davor gruseln, schon weil man das selbst nie so gut hinkriegen würde. Aber Karratsch war liebenswert. Neben seinen CDs, ich kenne alle seine Lieder, neben seinen Romanen, ich habe sie alle gelesen, stehen in meinem Bücherregal Werke von ihm geschätzter Autoren, die er mir regelmäßig zum Geburtstag schenkte. Auch die liebe ich alle. Ich greife ein paar heraus: 

Der „Ulenspiegel“ von Charles de Coster. Nach den darin handelnden Figuren Nele, Jan und Kai haben Franz Josef und Margret ihre Kinder benannt. Oder: „Der stille Don“ von Michail Scholochow. Dann: Die „Aufzeichnungen eines Jägers“ von Iwan S. Turgenjew. Und hier: „Ovid Metamorphosen“ mit der Widmung: „Zur Lebensmitte dem Hannes die Metamorphosen Ovids – aus einer Zeit in der noch im Strom des Lebens alles verging, wieder wurde, und manchmal Menschen zu Bäumen, Steine zu Menschen wurden – Nichts blieb wie es war, doch das Beständige wuchs.“ Von Karratsch.

Sie bedeuten mir viel, diese Geschenke. Mit ihnen verfüge ich über Belege großer Wertschätzung und Zuneigung eines Freundes. Meine Freundschaftsbeweise für Karratsch fallen dagegen bescheiden aus. Aber ich habe in der Vergangenheit oft seine Lieder gesungen und singe sie noch immer, um ihm – auch wenn er nicht mehr da ist – als meinem Freund nahe zu sein und um mich vor ihm als dem Meister zu verneigen.

Autor*in
Hannes Wader

ist ein deutschsprachiger Liedermacher und Musiker.

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