Sein Ausgangspunkt ist das Godesberger Programm von 1959. Diesem bescheinigt er zwar, dass sich die SPD mit ihm vom »orthodoxen Marx-Engelschen utopischen Geschichts- und Gesellschaftsprogramm « getrennt habe, aber gleichzeitig den »erstrangigen Bezug auf die christliche Ethik« auf die Leerstelle gesetzt habe, den Protestbegriff verschwinden ließ, vor allem aber - und das wird immer wieder Kernthese vorgetragen - auf die Begründung der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität verzichtet habe.
So eine »Sozialismus-Theorie aus einem Guss« nicht zustande gekommen, und erst das Hamburger Programm von 2007 habe den Bezug auf die jüdischen Wurzeln der Sozialdemokratie aufgenommen und sich damit - so der Autor wörtlich - zum Judentum »als primärer geistiger Quelle zum ersten Mal in ihrer 150 Jahre alten Geschichte bekannt«. Dadurch biete sich die Möglichkeit,Motiv,Herkunft und Begründung ihres Politikverständnisses in einer »geschlossenen Theorie« auszuformulieren:
»Die Sozialdemokratie muss sich selbst neu erfinden - der Bezug auf das Judentum im Hamburger Programm hat hierzu den Grundstein gelegt.« Das ist ein in Erstaunen versetzendes, vielleicht sogar aufregendes Fazit, das der Autor in mehreren Kapiteln, jeweils aneinander gereiht in einander ähnlichen Gedankenkreisen, oft umständlich, nicht immer ausreichend systematisch, manchmal sogar verwirrend vorträgt. Für ihn ist die christliche Denktradition autoritär; den Anti-Judaismus der katholischen Theologie habe Papst Benedikt XVI. in seinem Buch Jesus von Nazareth (2007) erneut bestätigt.
Jesus als nicht-jüdischem Juden ging es um das Zurück in den Garten Eden; im Gegensatz zur alttestamentarischen Tradition verhieß er eine (vorgebliche) Sinnfülle des Jenseits nach dem Tode.Und auch Benedikt XVI. gehe es um die Wiederherstellung des Paradieses, aber damit erfolge eben auch die Rücknahme von Autonomie, von Weltlichkeit/Materialismus und von der Erkenntnisfähigkeit von gut und böse. Je heftiger die »Jenseitssucht « sei, umso unnachgiebiger sei die Ablehnung des jüdischen »In der Welt Seins«,desto ähnlicher seien sich Christentum und Islam.
Jüdischer Denktradition fehle demgegenüber jede Spekulation über ein Jenseits; jüdisches Denken sei gegründet auf Ungehorsam (beginnend mit dem ersten Menschen und der Folge seiner Vertreibung aus dem Paradies), auf Freiheit und Dialog. Das Eigene an der jüdischen Religiosität sei »seine reine, absolut handliche, glasklare Innerweltlichkeit«,die Kraft zum Ungehorsam gegenüber jeder Form von irrationaler Herrschaft. Bei dieser Darlegung beruft sich der Autor auf Leo Baeck,Martin Buber, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und auch Albert Camus, dessen Existentialismus er als eine Revolte gegen Inhumanität, gegen Gewaltverhältnisse und »die Tradition des demütigen Denkens« interpretiert. Die Rezensentin kann nicht entscheiden, ob und in wieweit die theologischen Interpretationen des Autors stimmig sind.
Das Vorwort, das der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik beisteuert, bezweifelt dies in einigen Punkten, und man fragt sich überhaupt, was dieses Vorwort eigentlich soll, zumal sein Verfasser für sein Bild von der SPD nur die Vokabeln der Boulevardpresse zur Verfügung hat. Sicherlich müsste bei der Bewertung der katholischen Theologie die katholische Soziallehre ihren Ort finden.Der Autor erwähnt sie ebenso wenig wie protestantische Theologie und deren Umorientierungen. Aber darum geht es ja dem Autor Hans Erler auch gar nicht.
Er will erklären, warum seiner Auffassung nach die Sozialdemokratie ihre sie begründenden Wurzeln in der hebräisch-jüdischen Religiosität hat. Seine Kronzeugen - er nennt sie die »Gründungsväter der SPD« - sind, wie breit ausgeführt wird, Moses Heß mit seinem berühmten Diktum »Der Geist des Judentums ist ein sozialdemokratischer von Haus aus«, der Rabbinerenkel und -neffe Karl Marx und sein meist verborgen gebliebener »jüdischer Humanismus«, Ferdinand Lassalle mit seiner radikalen Formulierung der Idee der Sozialdemokratie über die Ziele der Französischen Revolution hinaus und Eduard Bernstein, der der jüdischen Dialektik von Ungehorsam, Freiheit und Dialog folgte und damit »die Sklerose im Marxschen (geschichtsphilosophischen) Denken « durchbrach. Es sind diese Vier, die die antiautoritäre Tradition des Widerspruchs in der SPD »gegen alles, was herrschen und niederzwingen will«, begründet haben.
Fehlinterpretationen
Das klingt alles sehr in sich geschlossen, beruht jedoch auf einigen Fehlinterpretationen. »Den« Marxismus als orthodoxes System hat es nie gegeben, und folglich stand die Sozialdemokratie bis 1959 auch nicht unter dem Bann eines solchen.Sie hat auch 1959 auf die Begründung ihrer zentralen Werte nicht einfach verzichtet, sondern sich befreit von allen ideologischen Verklebungen und weltanschaulichen Verortungen; vielmehr sollte jeder Einzelne frei vor sich selber begründen können,warum er sich als Sozialdemokrat verstand. Deshalb hat sich die SPD in ihrem Hamburger Programm auch nicht zum Judentum als ihrer primären geistigen Quelle bekannt; sie hat vielmehr endlich genannt, was lange vergessen blieb: ihre jüdischen Wurzeln unter anderen Wurzeln. Deshalb wird es auch keine irgendwie neue »Theorie aus einem Guss« geben können, aus der sich alles Weitere ableiten ließe.
Der Autor Hans Erler ist ein Sohn des 1967 verstorbenen sozialdemokratischen
Reformers Fritz Erler; er hat sich 1976 von der SPD abgewendet mit der Unterstellung,
sie sei »heute eine marxistische Partei«,und ist nach 27 Jahren Tätigkeit bei der Konrad-
Adenauer-Stiftung 2007 Mitglied der SPD geworden. Sein Buch zeichnet gewissermaßen
gedanklich den Weg, den er gegangen ist, nach. Dennoch ist sein Buch mehr als ein nur persönliches. In der Zeit eines schnelllebigen politischen Pragmatismus, der generationell bedingt
verkürzten Wahrnehmung historischer Linien und ansteigender Hilflosigkeit gegenüber den Anforderungen, politisches Handeln politischphilosophisch zu begründen, kann es gute Dienste leisten.
Nicht »die« SPD,wohl aber deren Mitglieder werden in dem Buch von Hans Erler viel Anregung finden, wenn sie ihre Kenntnis der Ursprünge des demokratischen Sozialismus vertiefen wollen.Nicht zuletzt werden sie dabei mit oder gegen den Autor die üblich gewordene vereinfachte Parallelisierung von jüdischem und proletarischem Emanzipationsbemühen korrigieren und der Deutung des Zusammenhangs mehr Tiefgang geben können.
Helga Grebing ist Professorin (em.) für die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung an der
Ruhr-Universität Bochum und leitete das Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung. Sie lebt in Berlin.
Verlag: Verlag Königshausen & Neumann
Erscheinungsjahr: 2009
Seitenzahl: 188 (broschiert)
ISBN: 978-3-8260-3969-0
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Helga Grebing (* 27. Februar 1930 in Berlin-Pankow, † 25. September 2017 in Berlin) war eine deutsche Historikerin und Professorin mit den Schwerpunkten in der Sozialgeschichte und der Geschichte der Arbeiterbewegung.