Kultur

Jenseits der Schranken

von ohne Autor · 2. Mai 2014

Endlich mal neu anfangen und dabei alle gesellschaftlichen Konventionen ausblenden: Wer kennt diesen Traum nicht? In dem Drama „Vergiss mein Ich“ beginnt dieser Aufbruch allerdings als ein Alptraum.

Und obendrein als ein unfreiwilliger. Von einem Moment auf den anderen wird Lena Ferben (Maria Schrader) aus der Bahn geworfen. Ihr Mann ist für sie ein Fremder, das besorgte Verhalten der Freunde und sprachliche Zwischentöne ein Rätsel. Schuld daran ist eine retrograde Amnesie, die ihr das biografische Gedächtnis geraubt hat. „Was andere intuitiv beherrschen, müssen Sie sich über die Logik erschließen“, eröffnet ihr ein Arzt, während sie wie ein Schulmädchen anhand von Fotos neu lernen muss, die Mimik ihrer Mitmenschen zu deuten.

Mit dem landläufigen Begriff von Logik hatte Lena bislang keine Probleme. Die angesehene Geisteswissenschaftlerin veröffentlichte etliche Bücher über das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. So mag es Ironie des Schicksals sein, dass in ihrer Wahrnehmung gerade auf diesem Gebiet nun einiges in Rollen kommt. Überhaupt steht vieles von dem, was in ihrem früheren Leben mit Tore (Johannes Krisch) selbstverständlich war, nun auf wackeligen Füßen. Der wiederum müht sich nach Kräften, „seine“ Lena ins Leben zurückzuholen. Doch dieser Kampf steht unter keinem Stern: Lena betrachtet ihr Leben vor der Erkrankung wie das einer „Verflossenen“. Und findet mit der Zeit Gefallen an einem umfassenden Reset.

Manches, was ihr vormals peinlich gewesen wäre, wird jetzt zur naheliegenden Option. Mit der gleichen inneren Distanz liest sie ihr Tagebuch. So ergibt sich schlussendlich ein geeigneter Moment, eine nicht unbedeutende Leiche aus dem Keller des Ehelebens zu ziehen. Mit der gleichen Unbekümmertheit beginnt sie eine Affäre mit der Zufallsbekanntschaft Roman (Ronald Zehrfeld).

Blick von außen

Ein Mensch, der sich selbst von außen betrachtet und gleichzeitig versucht, seinen inneren Kern aus Erfahrungen und Gefühlen (neu) zu ergründen und zu durchleben, der gewissermaßen von den anderen dazu gedrängt wird, sein bisheriges Ich zu schauspielern: Eine größere Herausforderung kann es für eine Schauspielerin kaum geben. Maria Schrader meistert sie nicht nur mit Bravour, sondern übertrifft obendrein auch die, mag es auch noch so abgedroschen klingen, hochgesteckten Erwartungen. Ihre Art, eine Frau zwischen naiver Suche und, zunächst sicherlich unbewusstem, Experimentierdrang zu verkörpern, erscheint selbst vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Extrem-Rollen als schwerlich übertreffbar.

Nicht zuletzt wegen der vielen Abgründe und Fallstricke, die diese Rolle mit sich bringt: Das Sprechen fällt Lena zunächst schwer. So kommt es für den Zuschauer in der ersten Hälfte des Films darauf an, ihre Entwicklung über ihre Körpersprache zu entschlüsseln. Schrader benötigt dafür keinesfalls dramatische Gesten. Es genügt, Lena dabei zuzusehen, wie sie, einem schüchternen Kind ähnlich, mit suchenden, manchmal auch abwesenden Augen ihre Welt entdeckt, nachdem sie nach ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden ist.

In anderen Momenten haftet ihr die passive Erscheinung einer Schlafwandlerin an, die nicht von dieser Welt zu sein scheint und sich treiben lässt. Ungläubig betrachtet Lena ihre Fotos auf all den Büchern, deren Inhalt Tore ihr nun erklären muss.

Wie eine Schlafwandlerin

Umso wirkungsvoller sind während dieser Phase Lenas sporadisch hingeworfene Sätze, die neben einer großen Unsicherheit eine ebensolche Unruhe erkennen lassen. Gleichzeitig schwebt über vielen Situationen die bereits erwähnte Unbekümmertheit. Das gilt erst recht für die Bettszene mit Roman, in der neben Schrader auch ihr Partner Ronald Zehrfeld ein beeindruckendes Maß an Offenherzigkeit beweist und gerade dadurch der eigentliche Handlungsfaden, also das Entschlüsseln von Erfahrungswelten, nicht verloren geht.

Diese unaufgeregte erzählerische Dichte für einen überaus komplexen Stoff ist freilich auch dem Drehbuch von Regisseur Jan Schomburg („Über uns das Universum“) zu verdanken, das im vergangenen Jahr, noch unverfilmt, für den Deutschen Filmpreis nominiert war. Aber auch der Kameraarbeit von Mark Comes, der Schrader in den Mittelpunkt rückt, ohne sie, nicht nur in Momenten der Schwäche, bloßzustellen. Zugleich gelingen ihm klischeefreie Bilder vom Großstadtleben eines Paares, dessen gemeinsame Basis gewaltige Risse bekommen hat.

Mag der ruhige, mitunter fast schon träge Erzählfluss manch einem Zuschauer gerade bei diesem Thema befremdlich erscheinen: „Vergiss mein Ich“ steht für ein rundherum gelungenes ästhetisches Konzept mit einer grandiosen Hauptdarstellerin und einer ebenfalls hervorragend besetzten, nicht minder präzise agierenden Entourage.


Info:
Vergiss mein Ich (Deutschland 2014), ein Film von Jan Schomburg, mit Maria Schrader, Johannes Krisch, Ronald Zehrfeld, Sandra Hüller u.a., 93 Minuten.  Ab sofort im Kino


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