Sie ist eine der bedeutendsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts: Gisèle Freund. Zu ihrem bedeutenden Werk gehören aber auch ihre Schriften zur Geschichte und Theorie dieses Mediums. Zum 100. Geburtstag hat der Verlag Schirmer/ Mosel den von der Fotografin selbst zusammengestellten, erstmals 1985 erschienenden Band "Photographien & Erinnerungen" neu aufgelegt. Eine Biographie dieser beeindruckenden Frau schrieb Bettina de Cosnac für den Arche Verlag: "Gisèle Freund. Ein Leben".
"Mein Hobby war die Fotografie"
Als Sophia Gisela Freund ist diese Pionierin der Fotografie am 19. Dezember 1908 in Berlin-Schöneberg geboren. Ihr Vater, ein jüdischer Textilkaufmann und Kunstsammler, fördert das
Kunstverständnis seiner Tochter nach Kräften. 16-jährig und Mitglied der Sozialistischen Jugend, verlässt Gisèle Freund das großbürgerliche Elternhaus und macht ihr Abitur an einer Schule für
Arbeiterkinder. Die junge Frau will studieren, und nicht - wie von den Eltern vorgesehen - auf eine Hauswirtschaftsschule gehen und heiraten.
"1932 war ich Soziologie-Studentin, aber mein Hobby war die Photographie. Mein Vater hatte mir 1928 eine Leica geschenkt", schreibt Gisèle Freund in "Photographien & Erinnerungen". Die
politisch engagierte Linke studiert am Frankfurter Institut für Sozialforschung und beginnt sich mit der Theorie der Fotografie zu beschäftigen - damals wissenschaftliches Neuland. Im Mai 1933
muss Gisèle Freund nach Paris fliehen. Mit im Gepäck: Ihre Leica - mit der sie zuvor noch die letzten antifaschistischen Demonstrationen fotografiert hatte.
"Lieblingssujets meines Objektivs"
In Paris arbeitet Gisèle Freund weiter an ihrer Dissertation: "Die Geschichte der Fotografie im 19. Jahrhundert. Eine kunstsozilogische Studie". Bei ihrer Arbeit in der Bibliothèque Nationale
trifft sie fast täglich Walter Benjamin. Bald entwickelt sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden Exilanten. Von der Vertrautheit der beiden zeugen Freunds Portraitfotos von
Benjamin - abgedruckt in dem Band "Photographien & Erinnerungen". Begleitet sind die Bilder - wie viele andere in dem Buch - von einem Text Feunds, in dem sie über ihr Verhältnis zu dem
Portraitierten schreibt.
"Ich habe nur Autoren und Künstler photographiert, die ich liebte und die ich gerne kennenlernen wollte", formulierte Freund. Ihre Liebe galt der Literatur - lange Zeit hegte sie den Wunsch
Schriftstellerin zu werden. Durch ihre Freundschaft mit der Buchhändlerin, Schriftstellerin und Verlegerin Adrienne Monnier kommt sie in Kontakt mit zahlreichen Schriftstellern. "Viele vertrauten
mir, wurden meine Freunde und Lieblingssujets meines Objektivs", schreibt Freund. Ihre Farbaufnahmen sind häufig die einzig existierenden Farbbilder der berühmten Porträtierten.
"Das individuelle Portrait"
Simone de Beauvoir, James Joyce, Anna Seghers und Marcel Duchamp, um nur einige zu nennen, hielt sie mit ihrer Kamera fest. "Ich habe niemals ein Bild 'gestohlen', sondern mich immer mit
Gesichtern auseinandergesetzt", formulierte Freund. Sie hält nichts von der Retusche, der künstlichen Verschönerung des Modells, fotografiert die Personen, wie sie sie sieht: "Ich hatte ganz
einfach Lust, während dieser Begegnungen jenseits der Maske, die wir in der Gesellschaft tragen, das individuelle Portrait zu finden."
Allerdings sind die Portraitierten nicht selten unzufrieden mit dem Ergebnis. Freund führt das darauf zurück, "daß wir unser Züge nie kennenlernen werden. Wir sehen uns immer
spiegelverkehrt und erschaffen uns irreale Portraits, da wir vor den anderen eine Rolle spielen und uns schützen wollen." Und sie schreibt: "Das Bild, das wir von uns selbst haben, entspricht
keineswegs dem Bild, das sich andere von uns machen." Weil ihre Art von Portraitfotografie kein besonders einträgliches Geschäft war, hielt die Fotografin es zeitlebens so: "Reportagen, um Geld
zu verdienen, und Portraits zu meinem eigenen Vergnügen".
Als Gisèle Freund am 31. März 2000 in Paris stirbt, ist sie seit fast 30 Jahren anerkannt und verehrt. Zu ihrem 100. Geburtstag gibt der schöne, von Freund zusammengestellte Band
"Photographien & Erinnerungen" einen Einblick in ihr Werk - auf allen Ebenen. Er zeigt Bilder aus ihren Reportagen, genau wie eine Auswahl der berühmten Portraitfotos und umfasst auch Texte
Freunds. Das Leben dieser außergewöhnlichen Frau, die vor den Nazis zunächst nach Frankreich und dann nach Südamerika fliehen musste, zeichnet Bettina de Cosnac in ihrer aufwändig recherchierten
Biographie nach.
Gisèle Freund: "Photographien &
Erinnerungen", Schirmer/ Mosel, 1985/2008, 220 Seiten, 49,80 Euro, ISBN 978-3-8296-0398-0
Bettina de Cosnac: "Gisèle Freund. Ein Leben", Arche Verlag, 2008, 304
Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-7160-2382-2
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.