Kultur

Jedes Jahr sucht Russland den Superstar im Gefängnis

Es winkt der Ruhm: Um dem tristen Gefängnisalltag in Russland zu entfliehen, bewerben sich Häftlinge an einem landesweiten Gesangswettbewerb. Eine Dokumentation hat einige von ihnen dabei begleitet und vermittelt einen Eindruck von ihrem Alltag.
von Fabian Schweyher · 28. September 2017
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Anatolij Kuleschov steht starr auf der Bühne, das Mikrofon in der Hand. Während die Musik aus den Lautsprechern scheppert, singt er von Liebe, von Trennungsschmerz. Die vielen Sitzreihen vor ihm sind leer. Nur auf den vordersten Stühlen sitzen Häftlinge, Wächter – und Natalia, die die Strafkolonie Nummer 7 in Zentralrussland besucht.

Der kurze Ruhm

Ihr Gesicht verzieht keine Miene, während er sein Bestes gibt. Später dann ihr Urteil: „Der Text ist sehr gut. Jedes Wort hat Gewicht.“ Doch er solle Zungenbrecher üben und joggen gehen, dann bekomme seine Stimme mehr Ausdruck. Anatolij – kurz geschorene Haare und in den dunkelblauen Häftlingsklamotten – schaut sie an. „Gut“, antwortet der Gefangene, der wegen Diebstahls drei Jahre in Haft verbringt.

Anatolij Kuleschov will gewinnen. Mit seinem Lied nimmt er am jährlichen Musikwettbewerb Kalina Krasnaja (Deutsch: roter Holunder) teil – ähnlich „Deutschland sucht den Superstar“. Der Unterschied: Mitmachen können nur Menschen, die in Russland im Gefängnis sitzen. Es lockt nicht die Freiheit, dafür der kurze landesweite Ruhm.

Von Gefängnis zu Gefängnis

Der Filmemacher Stefan Eberlein hat für seine Dokumentation „Von Sängern und Mördern“ mehrere Gefangene begleitet, wie sie an ihren Liedern feilen, Demo-CDs einspielen und schließlich von einer Jury für das Finale ausgewählt werden, um vor einem Publikum außerhalb der Gefängnismauern zu spielen.

Im Mittelpunkt des 87-minütigen Films steht allerdings Natalia, die Regisseurin des Wettbewerbs, die auch alle Bewerbungen erhält. Sie berät die Häftlinge – von den Texten bis zur Kleiderwahl für den Auftritt. Dafür reist sie von Strafkolonie zu Strafkolonie und begegnet dabei Mördern und Kleinkriminellen, Männern und Frauen. Sie hört zu, wie die Gefangenen von Liebe, Krieg und Ungerechtigkeit singen, aber auch vom schönen Leben auf dem Land.

„Kalina Krasnaja ist mein Leben“

Für Natalia ist der Wettkampf mehr als nur ein Job. Einst arbeitete sie in der Werbung. Sie habe gut davon leben können. Doch als sie 2007 zum ersten Mal für den Wettbewerb gearbeitet habe, sei ihr altes Leben zusammengebrochen. Im Vergleich zu den Problemen in einem Gefängnis habe alles kleinlich erschienen. Und sie habe Zeit verbracht mit Menschen, die sie brauchten. Bei dieser Arbeit derselbe Mensch zu bleiben, sei nicht möglich gewesen. Ihre Ehe ging in die Brüche, genauso die Beziehung zu Freunden. Jetzt sagt sie: „Kalina Krasnaja ist mein Leben, mein Schicksal, meine Liebe.“

Woher diese Leidenschaft herrührt, klärt der Film nicht auf. Offensichtlich wird allerdings, dass Natalia eine enge Beziehung zu vielen Häftlingen aufgebaut hat. Manchmal wirkt dieses Verhältnis distanzlos. Andere Häftlinge weist sie dafür – wie um ein Gegengewicht aufzubauen – brüsk zurück. „Es gibt keine kleinen Verbrechen“, schmettert sie einem Gefangenen entgegen, der wegen Drogenhandel einsitzt, und lässt ihn wegschicken.

Die Chance Gefühle zu zeigen

Leider verpasst die Dokumentation, einen tieferen Eindruck vom Alltag der Gefangenen zu zeigen. Jedoch lässt sich erahnen, wie trist es dort zugehen muss. Die Gesichter der Häftlinge versperren den Blick ins Innere. Wenn sie gehen, dann gebremst, weil immer ein Wärter sie begleitet. Wenn sie sprechen, kommen kaum Emotionen über die Lippen. Mit den kurzgeschorenen Haaren und der Häftlingskleidung wirken sie alle austauschbar.

Der Gesangswettbewerb will in diese eintönige Welt nicht recht passen. Zu singen bedeutet schließlich, sich selbst und Gefühle zu zeigen. Für die Gefangenen ist der Wettbewerb eine Chance, aus der grauen Masse hervorzustechen und sich gleichzeitig zu beschäftigen. Diesen Kontrast aufzuzeigen ist die Stärke dieser Dokumentation.

Eine seltene Chance

Ins Auge springt der Widerspruch, als die Finalisten des Wettbewerbs in der Stadt Wologda auftreten. In bunten Kostümen unterhalten sie von der Bühne aus das Publikum. Es sind Auftritte darunter, die vor Leben sprühen. Dies ist das Ziel, das alle Teilnehmer von Kalina Krasnaja anpeilen. Zu Beginn der Dokumentation sagt Anatolij Kuleschov nach seiner Probe im Gefängnis: „So eine Möglichkeit gibt es nicht oft.“ Gleichzeitig habe er Angst vor der Öffentlichkeit. „Ich habe so große Angst, dass ich gar nicht auf die Bühne treten will.“

Info: „Von Sängern und Mördern“ (Deutschland 2017), eine Dokumentation von Stefan Eberlein, 87 Minuten; mehr Infos unter singers-and-murderers.com. Jetzt im Kino.

Autor*in
Fabian Schweyher

ist Redakteur des vorwärts.

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