Überleben als empfundene Schuld – dieses Trauma tragen viele Israelis, die der Vernichtungsmaschinerie der Nazis entkommen sind, bis heute mit sich herum: Erlebtes wird verdrängt, alles Denken und Fühlen richtet sich auf die Gegenwart. Doch das ist nur eine Facette von „Ein Sommer in Haifa“.
Haifa im Jahr 1968: Während weltweit der „Sommer of Love“ brodelt, steht der jüdische Staat unter dem Eindruck des siegreichen Sechstagekrieges im Jahr zuvor. Teenager Arik träumt davon, ein Kriegsheld zu werden – oder doch lieber Autor von Detektivgeschichten? Der Generationenkonflikt hat die westliche Welt erfasst und auch Arik konfrontiert seinen Vater mit unbequemen Fragen, wenn auch mit einer anderen Intention als seine Altersgenossen in, sagen wir, der Bundesrepublik Deutschland.
Der Schatten des Lagers
Ein Gerücht lässt ihn nicht zur Ruhe kommen: Holocaust-Überlebende mussten schreckliche Verbrechen begangen haben, um nicht wie Millionen andere in Rauch aufzugehen. Ein reißerischer Schmöker will gar von Prostitution und Sex-Orgien im KZ wissen! Eines Tages steht ein Mann vor der Tür, mit dem Ariks Vater einst in Rumänien die Schulbank drückte: Auch Yankele Braid trägt schwer an der Last des Lagers, davon zeugen die tiefen Narben in seinem meist regungslosen Gesicht.
In einem verrufenen Viertel Haifas kommt er irgendwie als Heiratsvermittler über die Runden. Arik wird sein Assistent und lernt nicht nur jene schäbig-quirlige Hafengegend, sondern auch die verschlungenen Wege des Herzens kennen, die untrennbar mit der jüngsten Vergangenheit verbunden sind. Indem Arik in diese bizarre Welt aus armseligem Glamour, Sehnsüchten und Doppelmoral eintaucht, offenbart sich ihm die ganze Komplexität des Einwanderlandes Israel – und damit auch seine Identität. Yankele wird zur tragischen Figur: Er stiftet Liebe, ohne sie selbst zu bekommen. Als einer seiner Kunden sich für die von ihm innig verehrte Clara – die ihren Schmerz hinter der Aufmachung einer Hollywood-Diva zu verbergen versucht – nimmt das Drama seinen Lauf.
Flower Power in Nahost
Doch die Coming-of-Age-Geschichte um Arik folgt einem weiteren Strang: Mit der gleichaltrigen Cousine seines Kumpels halten Flower Power und freie Liebe Einzug in seine bislang bedingt progressive Umgebung auf dem Hügel. Unten am Hafen, wo Yankele sein Büro neben einem Liebesfilm-Kino hat, atmet alles Vergangenheit. Mit der aus den USA angereisten Tamara – ihre Eltern stammen aus dem Irak – bricht sich hingegen das Hier und Jetzt Bahn.
Ihre hemmungslose Lebensgier kennt weder Konventionen noch Traumata noch Respekt vor sogenannten Autoritäten – sondern einzig die unbedingte Entfaltung des freien Individuums. Nichts mit Tamara wird von Dauer sein und wer weiß, ob sie die Tragweite ihrer markigen Worte wirklich erfasst: Doch sie lüftet Ariks kleine Welt ordentlich durch – mit unwiederbringlichen Folgen.
Avi Nesher zählt zu den prominentesten Filmemachern Israels. „Ein Sommer in Haifa“ erntete gleich zweimal den Israelischen Filmpreis. Ariks Geschichte ist in mancherlei Hinsicht auch Neshers: Im Jahre 1953 als Sohn jüdischer Einwanderer aus Rumänien und der Sowjetunion nahe Tel Aviv geboren, ging er Mitte der 60er-Jahren mit seinen Eltern in die USA. Mit 18 kehrte er nach Israel zurück und diente in einer Spezialeinheit der Armee. Kann allein das auf eine innere wie äußere Sichtweise auf den seinerzeit jungen Staat Israel schließen lassen, also auch auf eine gewisse Distanz, die von der Berührung mit anderen Lebenswelten zehrt?
Leichter Stil für schweren Stoff
Der leichte Erzählstil und der Mut zum Burlesken lässt das zumindest vermuten. Nesher bringt beide Erzählstränge um Arik mit einer stimmigen Mischung aus Lakonie und Melancholie zum Leben und führt sie in der Gegenwart, dem Israel während des vergangenen Libanonkrieges, zusammen. Indem Nesher die Biografien der Holocaust-Überlebenden nur andeutet, stattdessen die sie umgebende Gegenwart in den Vordergrund rückt, erzählt er von Individuen und individuellen Seelenlagen: Sie prägen ein atmosphärisch dichtes und ungewohntes Bild vom jungen Israel. Freilich wäre dessen Grundton ohne die Jahre der Vernichtung ein anderes.
Gleichwohl stößt der Film an seine Grenzen, indem er sich auf die Perspektive seines heranwachsenden Protagonisten verlässt. Umgibt dessen Begegnungen mit der Eltern-Generation – trotz der bekannten historischen Fakten – ein gewisses Geheimnis, das nach und nach entschlüsselt wird, kommen die Szenen mit Tamara eher plakativ daher. Selbst wenn sich Nesher um einen lebensnahen Blick auf pubertierende 68er – Sex, Strand und Rock 'n' Roll – bemüht hat, wäre mehr erzählerische Sorgfalt geboten gewesen.
Und doch: Indem sich Arik und Tamara in der Hitze der Nacht, an der Grenze zwischen Unter- und Oberwelt, jeglichen größeren Zusammenhang ausblendend, lieben, gibt Nesher ein deutliches Bekenntnis ab: für die Kraft der Individualität unter allen Umständen.
"Ein Sommer in Haifa" („The Matchmaker“), Israel 2010, nach dem Roman „When Heroes Fly“ von Amir Gutfreund, Regie: Avi Nesher, mit Tuval Shafir, Adir Miller, Maya Dagan, Neta Porat u.a., 118 Minuten.
Kinostart: 02. Februar