Kultur

Ins Leere treten

von Birgit Güll · 21. September 2014

Wie es ist, sich im eigenen Leben fehl am Platz zu fühlen, davon erzählt Hanna Lemke in der Erzählung „Geschwisterkinder“.

Der Besuch eines alten Freundes der Familie und die Hochzeit zweier flüchtiger Bekannter sorgen dafür, dass die Geschwister Ritschie und Milla einander näher kommen. Es ist nicht so, dass die beiden keinen Kontakt hätten. Es ist aber auch nicht so, dass sie einander häufig ohne Anlass sehen würden. 

Eine feste Form annehmen

Nach ihrem viel beachteten Debüt, dem Kurzgeschichtenband „Gesichertes“, legt Hanna Lemke die Erzählung „Geschwisterkinder“ vor. Ritschie und Milla sind zwei junge Menschen die sich bisweilen fühlen wie die kleinen Blechfiguren zum Aufziehen, „die dann losliefen, unbeirrbar, und, selbst wenn sie über die Tischkante fielen, immer weiter traten, ins Leere“.

Milla jobbt im Spielzeugladen, Ritschie sitzt den ganzen Tag in einer Redaktion und sieht Agenturfotos über seinen Bildschirm laufen. Eigentlich wollte er Fotograf werden, doch dann hat sich das mit dem Job ergeben. Er ist gewissenhaft, kommt nie zu spät, klagt nie und macht nie krank. Mit der gleichen Gewissenhaftigkeit führt er seine Beziehungen. Doch das einzige Mal als er sich seiner Freundin Fabienne wirklich nahe fühlt, schläft sie tief und ist eigentlich abwesend. Irgendwann trennen sie sich, dabei wäre Ritschie gerne zusammengeblieben – nicht unbedingt mit ihr, aber wenigstens mit irgendwem. 

Die Geschwister suchen die Nähe zu anderen Menschen, doch sie spüren sie nicht. Milla lebt mit Simon, mit ihm zu schlafen hat ihr schon manchmal das Einschlafen erleichtert. Ansonsten wohnen sie in der gleichen Wohnung und scheinen doch weit voneinander entfernt zu sein. Morgens, auf dem Weg zur Arbeit, fühlt es sich für Milla an „als würde sie langsam von einem Aggregatzustand in einen anderen überwechseln und erst jetzt, unter den Blicken der Passanten, eine feste Form annehmen, ... ganz genau definiert sein würde für den Tag.“

Fremd im eigenen Leben

Es ist nicht die Kontrolle über das eigene Leben, die Ritschie und Milla nicht fühlen. Es ist viel mehr das dumpfe Gefühl der Fehler im Bild zu sein. „Sodass am Ende das Urteil, dass Milla fehl am Platz war, von ihr selbst ausging, während alle anderen nur die Jury bildeten, die das ganz genau erkannten.“ Die präzise Sprache der 1981 geborenen Autorin, die, ohne ein Wort zuviel, die Befindlichkeiten ihrer Figuren fast schmerzhaft deutlich macht.

Hanna Lemke erzählt von der Unsicherheit einer Generation, von prekären Verhältnissen, die Zuschreibungen von außen so wenig stabilisieren wie die Anpassung an Normen. Lemkes Figuren sind auf der Suche nach etwas Eigenem. Und wenn es nur eine echte Empfindung ist. „’Ich glaube, ich habe Angst’, sagte sie. Es klang in ihren Ohren wie eine vage Vermutung, wie die Frage, ob es wirklich dieser Begriff war, der das Gefühl beschrieb“, heißt es im Buch.

Die Protagonisten in Hanna Lemkes Texten haben kein Interesse daran länger zu laufen und zu laufen obwohl das Ziel, das sie sehen keine Relevanz für sie hat. Mit ihrer wunderschönen Sprache erzählt die Autorin eindringlich und glaubwürdig von einer Generation, die das blinde Vertrauen in leere Versprechungen verloren hat. Von den Stautssymbolen ihrer Eltern geht für sie so wenig Strahlkraft aus wie von deren Lebensentwürfen. Hanna Lemke ist eine starke, eigenständige Stimme in der deutschen Literatur. Auf ihren ersten Roman kann man nur gespannt warten.

Hanna Lemke: „Geschwisterkinder“, Erzählung, Verlag Antje Kunstmann, München 2012, 127 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-88897-749-7

Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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