Kultur

Ich bin der letzte Jude

von Thomas Köcher · 30. November 2009
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Das Grauen der Vernichtungslagern ist häufig in Berichten, Filmen und Fotos festgehalten worden. Dennoch gelingt es kaum, sich wirklich in einen der dort Inhaftierten hineinzuversetzen. Doch Chil Rajchman weiß wovon er spricht. Er hat diese Hölle überlebt. Er wurde 1914 in Lodz geboren. Als die Judenverfolgungen immer mehr zunahmen ging er mit seiner Schwester nach Ostrów Lubelski, einer Stadt ungefähr 30 Kilometer nordöstlich von Lubelski. Dort konnten die Juden ein relativ unbehelligtes Leben führen - bis die Nazis beschlossen, auch diese Gegend von "den Juden zu befreien". Am 10. Oktober 1942 begann seine mehrere Tage dauernde Deportation nach Treblinka, einer noch größeren Todesfabrik als Auschwitz.

Vom Überleben

Durch Glück konnte er dem Tod entgehen. Er wurde nicht vergast oder erschossen, weil die Nazis ihn als Friseur, Bauhelfer und Dentist einsetzten. Sehr eindringlich beschreibt er, wie unmenschlich er und seine Mithäftlinge von den Nazis und deren Kollaborateuren, der ukrainischen Wachmannschaft, behandelt wurden. Täglich kam es zu Selbstmorden, weil viele die ständigen Qualen nicht mehr aushielten. Rajchman und den anderen Mitgefangenen wurde schnell klar, dass sie nur überleben konnten, wenn sie aus dem Konzentrationslager ausbrechen würden. Dazu zettelten sie am 2. August 1943 einen Aufstand an. Viele, die entkommen konnten, wurden wieder eingefangen und ermordet. Nur wenige entkamen und überlebten. Einer von ihnen war Rajchman.

Er stellte sich häufig die Frage, weshalb er überlebt habe und beantwortete sie zugleich: Damit er seine schreckliche Geschichte erzählen und die entsetzlichen Taten der Nazis öffentlich machen könne. Treblinka dürfe nicht in Vergessenheit geraten. Sein Bericht wurde allerdings erst jetzt, fünf Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht. Warum ist ungewiss.

Gegen das Vergessen

Klar ist jedoch, was seine Schilderung von den Erzählungen anderer KZ-Häftlinge unterscheidet: Die meisten Berichte wurden erst viele Jahre nach den eigentlichen Erlebnissen geschrieben, so gerieten sie teilweise etwas pathetisch. Rajchman hingegen begann seine Notizen bereits auf der Flucht vor den Nazis und später im Untergrund. Nach der Befreiung vervollständigte und beendete er sie - und behielt sie doch für sich. 1946 wanderte er nach Uruguay aus, wo er 2004 verstarb. Viele hatten von seinem Bericht gehört, gelesen hatte ihn nur seine Familie.

Rajchmans Erzählstil ist präzise, sehr klar und eindringlich. Der Leser fühlt sich bei der Lektüre in die Rolle eines Mithäftlings versetzt. Er hört förmlich das Knallen der Peitsche und die Schreie der Geschlagenen, die den Schikanen der Nazis hilflos ausgesetzt sind. Ihr spürt ihre Ohnmacht, die den Zorn wachsen lässt.

Diese psychische Nähe macht das Werk Rajchmans so einmalig. So trägt er seinen Teil dazu bei, dass die grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten nicht vergessen werden.

Chil Rajchman, Ich bin der letzte Jude. Treblinka 1942/43. Aufzeichnungen für die Nachwelt, Piper Verlag, München 2009, 160 Seiten, Preis 16,95 Euro, ISBN 978-3-492-05335-8

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Autor*in
Thomas Köcher

Ich studiere Kulturwissenschaften an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt (Oder) mit den Schwerpunkten Kulturgeschichte und Sozialwissenschaften. Ich lerne dort ebenfalls Englisch und Spanisch. In meiner Freizeit bin ich "ganz normal" wie andere auch: Ich spiele Fußball, gehe gerne weg oder verbringe Zeit mit meinen Freunden.

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