Das Gesicht der Fernsehmoderatorin Gillian ist nach einem Autounfall entstellt. Ihr Mann, der Lenker des Fahrzeugs, ist tot. Peter Stamms neuer Roman „Nacht ist der Tag“ beginnt mit einem Scherbenhaufen, der gleichsam ein radikaler Neubeginn ist.
Ein Schicksalsschlag, laut und brutal. Die schöne Gillian verliert bei einem Autounfall ihr Gesicht. Es ist verstümmelt. Eine Reihe von Operationen wird dafür sorgen, dass sie der Frau die sie war, der erfolgreichen TV-Moderatorin wieder ähnlich sieht. Doch zunächst muss sie in ihrem Krankenbett feststellen, dass ihr Mann Matthias tot ist. Ihr einziger Besucher ist ihr Vater, er wagt es kaum sie anzusehen. Die Mutter kommt lieber nicht vorbei. Die Bekannten haben Blumen geschickt.
Eine Inszenierung, statt eines Lebens
Nun ist der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm kein Mann des großen Knalls. Er ist ein Autor der leisen Töne, sein Interesse gilt den von außen kaum wahrnehmbaren Veränderungen im Leben. So hält Stamm sich nicht lange mit dem Unfall und den Operationen auf. Er dringt schnell zu Kern vor. Seine Heldin ist allein und es ist Zeit, ehrlich zu sein: „Ihr Leben vor dem Unfall war eine einzige Inszenierung gewesen. Ihr Job, das Fernsehstudio, die schönen Kleider, die Städtereisen, die Essen in guten Restaurants ...“ Gillian und Matthias, ein glamouröses Paar. Sie „spielte die schöne und erfolgreiche Kulturjournalistin für die Zuschauer, für die Medien, für Matthias und sich selbst.“
Gillian hatte bereits vor dem Unfall versucht einen Seitenausgang aus ihrem Leben zu finden, hatte die Nähe zu dem Künstler Hubert gesucht. Dessen Erfolg beruhte darauf, Frauen nackt zu fotografieren, um sie dann zu malen. Gillian interviewt ihn für ihre Kultursendung. Danach sucht sie den Kontakt, lässt sich von ihm fotografieren, bietet irgendwann an sich auszuziehen. Doch so weit sie das Spiel auch treibt, Hubert taugt nicht als Exit-Strategie aus dem eigenen Leben.
Ihr Leben verändern wird er trotzdem. Matthias findet die Aktfotos, die Hubert von Gillian aufgenommen hat. Er will wissen, wer sie gemacht hat. Ein Streit entspinnt sich. Matthias trinkt zu viel, besteht darauf Auto zu fahren. Es kommt zu dem Unfall, der für ihn tödlich endet. Für Gillian ist er das Ende des Lebens mit Matthias und das Ende ihrer Fernsehkarriere.
Eigene Entscheidungen
Schnitt. Peter Stamm wechselt die Zeit und die Perspektive: Sechs Jahre später, Gillian nennt sich Jill und leitet das Animationsprogramm in einem Berghotel. Hubert – Beziehung gescheitert, künstlerische Karriere liegt auf Eis – bekommt eine Einladung in die Gegend. Er soll eine Ausstellung für eine Galerie erarbeiten. Die zweite Hälfte von Stamms Buch ist aus seiner Perspektive geschildert und trotzdem ist es Jill, die jetzt aktiv wird.
Jill an ihrem Rückzugsort. „Sechs Jahre lang hatte sie sich hier oben versteckt und gar nicht gemerkt, dass niemand sie suchte.“ Sie hat dafür gesorgt, dass Hubert von der Galerie eingeladen wurde. Was immer Jill erwartet hat, Hubert ist mit seiner eigenen Misere beschäftigt. So trifft Jill ihre Entscheidung am Ende allein. Dass das Finden des eigenen Weges nicht pathetisch oder kitschig gerät, liegt an Stamms klarer Sprache und ruhiger Erzählweise. Sie zeichnen seine Bücher aus und machen sie so eindringlich.
Peter Stamm: „Nacht ist der Tag“ S. Fischer, Frankfurt am Main 2013, 253 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-10-075134-8
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.