Kultur

Hinter Anstaltsmauern

von Birgit Güll · 1. Februar 2010
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"Ich bin nur die Hebamme meiner eigenen alten Geschichte. Das ist genug Hebammenkunst", betont Roseanne. Doch in ihrem Lebensbericht spiegelt sich die Chronik Irlands: In den 1920er und 1930er Jahren, tobt ein erbitterter Kampf um die Unabhängigkeit des Landes. Religionszugehörigkeit zählt weit mehr als Persönlichkeit. Das muss die Tochter eines presbyterianischen Vaters früh begreifen. Zwar interessiert Roseanne sich wenig für Konfession oder Kirche, doch genau diese übt in Gestalt des katholischen Dorfpfarrers Father Gaunt Macht über sie aus.

Roseanne ist nicht bereit sich zu fügen. Sie ist entschlossen, das Leben zu genießen und selbstständige Entscheidungen zu treffen. Ein Vorhaben, das die Verachtung der katholischen Obrigkeit auf sich zieht. Doch ihr Plan scheint aufzugehen: Sie verliebt sich in den Katholiken Tom McNulty. Gegen den Widerstand seiner Mutter heiratet das Paar und ist glücklich. Allerdings hat Roseanne die Macht der Kirche unterschätzt. Mit größter Perfidie holt diese die Widerspenstige ein. Die Ehe wird annulliert und die junge Frau lebt als Geächtete: "Freiheit für Tom, für meinen geliebten Tom. Und was blieb mir?"

Maßlose Wut
Roseannes Bericht wird ergänzt von den Aufzeichnungen ihres Psychiaters. Dr. Grene soll den Zustand seiner Patientin neu bewerten, eine mögliche Entlassung prüfen. Dabei ist der Arzt mit sich selbst fast noch mehr beschäftigt als mit der alten Dame: Das Scheitern seiner Ehe und bald auch der Tod seiner Frau plagen ihn. Doch Roseannes Geschichte übt einen Sog auf ihn aus, der ihn ablenkt, wenn nicht sogar tröstet. Er stöbert nach Dokumenten aus der Zeit ihrer Einlieferung und wird fündig: Eine detaillierte Aussage Father Gaunts beschreibt Roseanne als Wahnsinnige, die ihr eigenes Kind tötete.

Die Patientin kann in ihrem Selbstzeugnis zwar Näheres über den Vater ihres Kindes und die Geburt berichten. Doch was mit dem Baby geschehen ist, weiß sie nicht. Dr. Grene misstraut dem Bericht des Geistlichen. Der Arzt stellt fest: "Seine Wut darüber, dass sie sich auf seine Bitte hin nicht zur Katholikin machen lassen wollte, lange bevor sie ihren katholischen Mann heiratete, und danach auch blieb, was sie war, ist maßlos. Für Father Gaunt stellt dies an sich schon eine regelrechte Perversion dar."

Absolute Korruption
So bleibt es an Dr. Grene aufzuklären, weshalb die Frau vor so langer Zeit hinter Anstaltsmauern verbannt wurde. Keine einfache Aufgabe: "So sicher, wie die Nacht auf den Tag folgt, so sicher führte die absolute Macht von Gestalten wie Father Gaunt zu absoluter Korruption", so der Arzt. Seine Recherchen befördern eine weitere Version der Geschichte ans Tageslicht. Was er herausfindet ist verblüffend.

Sebastian Barry hat ein absolut eindrucksvolles Buch geschrieben. Sprachgewaltig verleiht er seinen Figuren über deren Aufzeichnungen Tiefe. Virtuos entpackt er ihre Lebensgeschichten, die aufs Engste miteinander und mit der Chronik Irlands verwoben sind. Barrys Charaktere werden lebendig, wecken Vertrauen. Zugleich werfen sie die Frage auf, wie weit den Selbstzeugnissen von Personen vertrauen werden kann. Wie sehr bastelt jeder an seiner Geschichte, schönt und deutet sie in seinem Sinne? "Ein verborgenes Leben" ist ein spannender Roman, dem nicht nur die Geschichte eines Landes innewohnt, sondern der auch den Raum für eine Reflexion über das Erzählen öffnet.

Sebastian Barry: "Ein verborgenes Leben" Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, Steidl Verlag, 2009, 392 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-86521-967-1

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Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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