Kultur

Herta Müller: Atemschaukel

von Brigitte Preissler · 8. Oktober 2009
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Für die unstillbare Gier nach ein wenig Brot, einer Kartoffelschale, ja selbst nach wildem Unkraut, von der die Lagerinsassen aus Hunger unablässig gequält sind, ist dieser "Hungerengel" ein ungeheuer eindrückliches Bild.

"Kochrezepte sind Witze des Hungerengels"

Auch Müllers Freund, Mentor und Kollege Oskar Pastior (1927-2006), der aus dem siebenbürgischen Hermannstadt stammte, lernte diesen schrecklichen Geist kennen. Mit Pastior zusammen wollte Müller das Buch eigentlich schreiben. Doch 2006, kurz vor der Verleihung des Büchner-Preises, starb der Lyriker, und so machte die Schriftstellerin sich nach einigem Zögern allein an die Arbeit. Pastiors Erinnerungen aber prägen das Werk: Der Ich-Erzähler Leo Auberg erlebt, was Pastior selbst widerfuhr. Als 17jähriger wurde er in die Ukraine verschleppt und musste dort in fünf langen Lagerjahren erfahren, was es heißt, wenn der Einzelne nichts mehr gilt und die Kälte der vielen Lagertoten schließlich auch auf die Herzen der lebenden Insassen übergreift. Ein inhaftierter Anwalt beispielsweise stiehlt seiner eigenen Frau so lange die Suppe, bis sie verhungert. Über Leo heißt es an einer Stelle: "Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß."

Leo überlebt diese "Hautundknochenzeit". Müller erzählt in gewagten Vergleichen und einer lyrisch anmutenden Metaphorik davon, wie das erniedrigende Zurückgeworfensein auf die elementarsten Bedürfnisse, wie all der Schmutz, die Läuse, das Dahinvegetieren in engen Baracken und die harte Zwangsarbeit die Menschen bis weit über ihre Entlassung hinaus prägten. Vom "Eigenbrot" und "Wortgeruch" ist die Rede, von "Pelzblumen" und "Baustellenschwermut"; die Kohle im Lager wird mit der "Herzschaufel" geschippt. Herta Müller schreibt in so eleganten Wortschöpfungen und poetischen Bildern über das Grauen - weil sie uns den bitteren Geschmack der Lagersuppe gerade dank ihrer fremden, verstörenden Schönheit zumindest erahnen lassen kann.

Herta Müller: Atemschaukel. Hanser Verlag, 304 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3446233911

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