Macht und Verantwortung
Nur eine kleine römische Zwei auf dem Buchrücken deutet bei geschlossenem Buch an, was angesichts der Dicke des Buches zunächst unwahrscheinlich scheint: es handelt sich bei diesem Buch
tatsächlich nur um den zweiten Band einer Helmut Schmidt-Biographie. Den ersten Teil hat Hartmut Soell vor fünf Jahren - zu Schmidts 85. Geburtstag - unter dem Titel "Vernunft und Leidenschaft"
herausgebracht.
Für den zweiten Teil der Biographie hat Soell den Titel "Macht und Verantwortung" gewählt. Er umreißt damit den Kern von Schmidts Karriere in den Jahren nach 1969 mit zwei zentralen
Schlagworten. Die Übernahme zunächst des Verteidigungs-, dann des Finanzministeriums und schließlich der Kanzlerschaft bedeutete Machtzuwachs. Schmidt gelang es jedoch auf einzigartige Weise
diese Macht durch eigenes Verantwortungs- und Pflichtgefühl im positiven Sinne zu begrenzen. So äußerte Schmidt etwa auf einem Bundesparteitag der SPD im Jahr 1977: "…der politisch Handelnde hat
die tatsächlichen Folgen - einschließlich der von ihm nicht gewünschten Nebenwirkungen seines Handeln genauso zu verantworten, wie er seine guten Vorsätze zu verantworten hat." (Zitat auf Seite
792).
Da Soells Buch vor allem eine politische Biographie des fünften Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland ist, ist es nicht überraschend, dass die Jahre zwischen 1969 und 1982 - den
größten Teil des Buches einnehmen: während diese Zeit auf knapp 900 Seiten dargestellt wird, finden die Jahre von1982 bis heute auf nur etwa 50 Seiten statt.
Mitarbeiter, Historiker und Politiker
Der Autor, Hartmut Soell, war beim Verfassen des Buches in der komfortablen Situation, verschiedene Perspektiven auf die politischen Entwicklungen der 60er, 70er und 80er Jahre zu haben. So
arbeitete er bei der SPD-Bundestagsfraktion als persönlicher Mitarbeiter des Fraktionsvorsitzenden Schmidt, lehrte und forschte als Historiker und lernte die Realitäten des politischen Lebens als
langjähriger Bundestagabgeordneter selbst kennen. Diese Sachkompetenz ist dem Buch anzumerken. Soell gelingt es, ein sehr vielseitiges Bild verschiedener politischer Ereignisse zu zeichnen. In
seinen Ausführungen berücksichtigt er innere wie äußere Verhältnisse und lässt auch den historischen Erfahrungshorizont seiner Akteure nicht außer Acht. Hartmut Soell - selbst Sozialdemokrat -
nähert sich seinem Thema vorurteilsfrei und verschweigt auch nicht die Probleme, die die SPD jener Jahre hatte. So widmet er sich etwa auch in einem eigenen Kapitel dem schwierigen Verhältnis,
das Helmut Schmidt zu den Jusos oder vielmehr die Jusos zu ihm hatten.
Fazit
Die Komplexität des Buches hat aber auch einen Nachteil. Das Buch eignet sich nicht unbedingt als gemütliche Feierabendlektüre. Durch seine eher wissenschaftliche Art sollte es mit einem
gewissen Grad an Konzentration gelesen werden. Darüber hinaus könnte sich der eine oder andere Leser ohne Vorkenntnisse an der einen oder anderen Stelle von den zahlreichen Namen und
Begebenheiten erschlagen fühlen. Mit ein paar Grundkenntnissen ist die Lektüre dieses Buches jedoch eine Bereicherung, die nicht nur das eigene historische Wissen erweitert sondern auch die
Wurzeln vieler aktueller Fragen aufdeckt. Für den Historiker hat dieses Buch durchaus den Wert eines Standardwerkes, welches bisher ohnegleichen ist.
Hartmut Soell: Helmut Schmidt. Macht und Verantwortung: 1969 bis
heute, 1088 Seiten, mit Abbildungen, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008, ISBN: 978-3-421-05795-2, € 39,95.