„Global Family“: Vom Suchen und Finden der Heimat
In diesen Tagen sei es gestattet, selbst bei einer Filmkritik zum Thema Flucht einen Bezug zur deutschen Fußballhistorie herzustellen. Und sei es nur, um den tiefen Fall zu veranschaulichen, der einem der Protagonisten in „Global Family“ widerfahren ist. Stellen wir uns also vor, in Deutschland tobt ein Bürgerkrieg und „Kaiser“ Franz Beckenbauer gelingt in letzter Minute die Flucht. Am sicheren Zielort, mehrere Tausend Kilometer von seiner Heimat entfernt, versucht er, mit allen Mitteln seine Familie nachzuholen. Dies gelingt nur bedingt. Und auch sonst erlebt der einst so hoch angesehene Mann allerlei Rückschläge. Er will und kann in seinem neuen Land einfach keine Wurzeln schlagen. Aus dem einstigen Superstar ist der „ewige Flüchtling“ geworden.
In „Global Family“ gibt es einen Mann mit so einer Geschichte, allerdings heißt er Ali Ibrahim Shaash. In seinem Geburtsland Somalia und anderen Nationen der Region kennt jeder den früheren Nationalkicker und späteren Politiker, der sich um einen Ausgleich zwischen den verfeindeten Clans bemüht hat. Doch in Deutschland, wo er seit gut 30 Jahren mit Flüchtlingsstatus lebt, ist er ein Niemand. Neben seiner Tochter Yasmin – der zweiten Protagonistin – und den Enkeln, einer winzigen Wohnung und etwas Geld vom Amt ist ihm der Traum geblieben, eines Tages nach Afrika zurückzukehren. Die anderen Familienmitglieder verteilen sich über Äthiopien, Italien und Kanada.
Neue Dynamik
Yasmin wirkt zunächst wie das Gegenteil ihres Vaters: Längst hat sie einen deutschen Pass. Ihren Kindern ist Deutschland eine selbstverständliche Heimat, wenn auch, wie sich zeigen wird, mit Rissen. Afrika hingegen ist für die Kleinen eine ferne, von Mythen umrankte Welt. In Yasmin, die als Kleinkind nach Europa gekommen war, wächst der Wunsch, ihre afrikanischen Wurzeln zu erforschen, am besten vor Ort. Ein Anruf aus Äthiopien verleiht Yasmins und Alis Sehnsucht eine ganz neue Nuance und Dynamik. Nach mehr als zwei Jahrzehnten will Alis Bruder die Mutter nicht mehr bei sich beherbergen. Die 88-Jährige soll die provisorische Bleibe in einem Somalier-Slum in der Hauptstadt Addis Abeba verlassen. Und zwar in Richtung Europa. Was tun? Ali reist nach Ostafrika, um dort eine Lösung zu suchen. Und Yasmin nebst Kindern kommen mit.
„Global Family“ wirft einen intimen und sensiblen Blick auf Fragen wie: Was bedeutet es, wenn eine Familie auseinandergerissen wird? Wie lässt sich gemeinsam eine Lösung für ein dringliches Problem finden, wenn die Beteiligten mittlerweile völlig verschiedenen Lebenswirklichkeiten entstammen? In Zeiten von Debatten über Familiennachzug für Flüchtlinge hat all das natürlich eine politische Dimension. Anstatt diese Konnotation zu vertiefen, konzentrieren sich die beiden deutschen Filmemacher Melanie Andernach und Andreas Köhler ganz auf die Familie Shaash, deren Mitglieder nun wieder zueinanderfinden müssen. Klar ist: Weil Ali und sein Bruder in Italien von Sozialleistungen leben, legen ihnen die Behörden Steine in den Weg, dass einer der Söhne die Mutter bei sich aufnimmt. So beginnt die Suche nach einem Ausweg in Afrika.
Fremdes Afrika
Das Filmteam hat Ali, Yasmin und Co. über mehrere Jahre immer wieder in der Bundesrepublik, in Mailand und Äthiopien begleitet. So entstanden einerseits atmosphärisch dichte und scheinbar ungeschminkte Eindrucke vom Innenleben einer Familie, in der Flucht und Fremdheitserfahrungen alles andere zu überlagern scheinen. Außerdem wird der Clash der Kulturen in subtilen Szenen dargestellt: Schockiert von Dreck und Armut merkt Yasmin, dass sie sich beim Besuch der Oma in dem winzigen Verschlag im Slum genauso fremd fühlt wie zuvor mitunter in Deutschland. Gleichzeitig spüren ihre Kinder und sie gerade während der zehn Tage in Äthiopien ihr „Deutschsein“.
Wohl noch nie zuvor liefen so viele Filme zum Thema Migration in deutschen Kinos. Produktionen wie Ai Weiweis „Human Flow“ oder „Taste Of Cement“ setzen darauf, mit einer mitunter überwältigenden Ästhetik das Bewusstsein für globale Probleme zu schaffen. „Global Family“, beim Max-Ophüls-Preis als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet und nun kurz nach dem Tag des Flüchtlings gestartet, lebt hingegen von einer Quasi-Unmittelbarkeit und dem intensiven Fokus auf Menschen, die nach einem lebensgefährlichen Trip hier angekommen sind. Auch ohne großartige dramatische Verdichtung wird erfahrbar, was es bedeutet, sich auf eine neue Heimat einzulassen. Und wie man daran zu scheitern droht.
„Global Family“ (Deutschland 2018), ein Film von Melanie Andernach und Andreas Köhler, mit Ali Ibrahim Shaash, Yasmin Ibrahim Ali u.a., 90 Minuten. Kinostart: 28. Juni