Kultur

Gesellschaft auf der Kippe

Straßenstrich statt Spanische Treppe: In seinem Dokumentarfilm über Roms Peripherie zeigt Gianfranco Rosi berührende Eindrücke von einer Gesellschaft auf der Kippe.
von ohne Autor · 27. März 2015
Arm, aber adelig: In diesem  Wohnblock gedeihen eigenwillige Träume.
Arm, aber adelig: In diesem Wohnblock gedeihen eigenwillige Träume.

Die Ewige Stadt und die ihr nachgesagte Lebensart haben als Raum der Mythen und Illusionen immer wieder Eingang in die Filmgeschichte gefunden. Das weniger von ästhetischen Deutungen überfrachtete Leben am Stadtrand spielte dabei selten eine Rolle. Doch heutzutage bieten gerade diese urbane Räume Einblicke in das, was sich als der authentische Kern einer Stadt betrachten lässt.

Persönliche Krisen

Genau diesen Weg geht der italienische Regisseur Gianfranco Rosi in seinem Dokumentarfilm „Sacro GRA – das andere Rom“. GRA steht für „Grande Raccordo Anulare“, den Autobahnring, der Italiens Hauptstadt umschließt. Drei Jahre lang war der 1964 geborene Filmemacher entlang und abseits der 70 Kilometer langen Trasse unterwegs, um den Menschen und ihren Geschichten nachzuspüren.

Herausgekommen ist ein Mosaik, das von ganz verschiedenen persönlichen Krisen erzählt, ohne dem Ganzen eine depressive Note zu verleihen. Das tägliche Verkehrstreiben prägt auf verschiedenste Weise Biografien. Wie der Titel ironisch nahelegt, ist der Autobahnring sicherlich kein Heiligtum, um das sich alles dreht, wohl aber drückt er einer manchmal im wahrsten Sinne des Wortes randständig anmutenden, Gesellschaft den Stempel auf.

Geheimnisvolles Schattenreich

Ein Gewirr aus Lichtern empfängt uns während der Eingangsszene auf dem nächtlichen Asphalt. Nach Einbruch der Dunkelheit scheint sich der profane Verkehrsweg in ein geheimnisvolles Schattenreich zu verwandeln. Langsam entwirrt sich das flirrende Panorama, das seine Entsprechung im schillernden Personal widerspiegelt.

Da wäre der Krankenpfleger, der Nacht für Nacht mit dem Krankenwagen über die Autobahn brettert und fast in jeder Situation einen lakonischen Spruch findet. Sein einsames Privatleben mutet dagegen deprimierend an. Oder die beiden nicht mehr ganz jungen Straßenprostituierten, die in ihrem schrottreifen Wohnmobil hocken und über Polizeischikane oder Käsesorten philosophieren.

Ein Hauch des Roms mit seinen Gärten und Palästen umweht die Auftritte des seltsamen Grafen, der sein Haus für Film- und Fotoaufnahmen vermietet. Welchen Gedanken er sich wohl in seiner Badewanne inmitten des kitschigen Salons hingibt?

Ein verarmter Adeliger, der mit seiner Tochter eine winzige Hochhauswohnung in der Einflugschneise des Flughafens lebt, lässt uns hingegen ausgiebig an seiner geistigen Welt teilhaben. Mag diese auch eher psychedelischer Natur sein.

Ganz Italien im Blick

„Sacro GRA“ gewann bei den Filmfestspielen von Venedig vor zwei Jahren den Goldenen Löwen, und das als erster Dokumentarfilm überhaupt. Diese kleine Sensation findet ihre Berechtigung darin, dass Rosi mit einer zurückhaltenden, aber wirkungsstarken Ästhetik die Vielschichtigkeit eines sozialen Raumes offenlegt, der wiederum symptomatisch für die italienische Gesellschaft an sich zu sehen ist – mit all ihren Problemen im Zeichen der Wirtschafts- und Schuldenkrise, aber auch weit darüber hinaus.

Trotz des behutsamen Regieansatzes und mancher Unklarheiten – Rosi verzichtet auf einen Kommentar und es fehlt ein allwissender Erzähler – erzeugt das Kaleidoskop aus Persönlichkeiten, Bildern und Momenten einen anhaltenden Sog. Man fragt sich, wie viele Gespräche Rosi mit den Auftretenden vorher geführt hat, so offenherzig erzählen und agieren diese vor der Kamera.

Bilder, die bleiben

Das erzeugt eine Intensität, die fiktionalen Milieustudien, wie man sie zum Beispiel von Federico Fellini kennt, in nichts nachsteht. Diese speist sich wiederum auch aus dem Kontrast zwischen der großen und der kleinen Perspektive. In diesem Wechselspiel scheinen immer wieder interessante Bezugspunkte zwischen den Menschen, den Dingen und den Strukturen hindurch. Mit der wogenden Schafherde, die direkt an der Autobahn weidet – in der Ferne ragt eine Hochhausfront empor –, ist Rosi gar ein Bild für die Ewigkeit gelungen. Ganz zu schweigen vom Mönch, der auf der Autobahn zur Kamera greift.

 

Info: Sacro GRA – das andere Rom (Italien 2013), ein Film von Gianfranco Rosi, OmU, 93 Minuten

Ab sofort im Kino

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