Agnes zieht sich zurück in ein einsames Landstück in Wales. Die Niederländerin flieht nur scheinbar vor ihrem Ehemann und den Folgen ihrer Affäre mit einem jungen Studenten. Tatsächlich sucht die Frau aus Gerbrand Bakkers neuem Roman „Der Umweg“ einen letzten Ort für sich selbst.
Sie wollte über Emily Dickinson promovieren. Die Gedichte der US-amerikanischen Autorin hat sie mitgebracht in ihr Exil, genau wie ein Foto der scheuen Lyrikerin, das sie in ihrem Arbeitszimmer platziert. Die unkritische Heiligsprechung der Dichterin und die hohe Anzahl von Gedichten minderer Qualität sollten Gegenstand der Arbeit sein. Als wollte Agnes sich die Nähe zu der Dichterin verbieten, deren einsamer Lebensweise sie sich nähert, als sie eines Tages aus ihrem alten Leben flieht. Ohne Ankündigung verlässt sie Amsterdam, ihren Mann, ihre Stelle an der Universität und mietet ein abgelegenes Häuschen in Wales.
Die Witwe Evans, die darin gelebt hatte ist erst kürzlich verstorben. Ihre Gänse sind noch da, doch ein Fuchs holt sich eine nach der anderen. Dieses schnelle Verschwinden der Tiere macht Agnes Angst. Das liegt wohl daran, dass sie selbst nicht mehr viel Zeit hat. Sie ist krank, doch darüber denkt Bakkers Protagonistin nicht nach. Nur in den wenigen Kapitel, die der Autor aus Sicht des verlassenen Ehemannes erzählt, wird klar, dass bei Agnes im Rahmen einer Fruchtbarkeitsuntersuchung eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde. Als ihr Mann davon – zufällig und nur andeutungsweise – erfährt macht er sich auf die Suche nach ihr.
Ungestörte Ruhe
Agnes will nicht gefunden werden. Sie hat genug Schmerzmittel, um sich zu betäuben und genug Bargeld, um ihren Aufenthaltsort nicht durch das Abheben von Geld zu verraten. Sie bestellt den Garten und legt zugewachsene Wege frei. Es ist November und doch ist es sonnig und fühlt sich für Agnes so warm an, dass sie sich an Steinen wärmen kann.
Sie denkt an ihren Onkel, der irgendwann versucht hatte Selbstmord zu begehen – in einem Teich vor dem Hotel in dem er arbeitete, das Wasser reichte ihm gerade mal bis zur Hüfte. Er ging hinein und stand reglos in der Mitte. „Daß sich ein flacher Hotelteich wie ein toter Punkt anfühlen kann, ein Nullpunkt, und das Ufer – ohne Anfang und Ende, ein Kreis – wie eine grenzenlose Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.“ Agnes in ihrem Exil versteht: „Sie wohnte in diesem Haus, wie er in dem Teich gestanden hatte.“
Agnes genießt die Einsamkeit, die nur unterbrochen wird wenn ein Dachs – ein angeblich scheues, nachtaktives Tier – ihre Wege kreuzt oder der aufdringliche Nachbar ungebeten an ihrem Frühstückstisch Platz nimmt. Im Dezember verliert die Sonne langsam an Kraft und Agnes nimmt den Geruch nach alter Frau, den sie der verstorbenen Witwe Evans zuschreibt, immer deutlicher wahr.
Sich ein Bett machen
In dieser Situation – es ist der Zeitraum, in dem ihre Schmerzmittel nicht mehr stark genug sind – nistet sich Bradwen bei ihr ein. Der Junge hat sein Studium abgebrochen und erkundet nun einen Wanderweg in der Umgebung ihres Hauses. Emilie heiße sie, sagt Agnes dem Jungen. Emily, spricht er, der aus der Gegend kommt, diesen Namen aus. Agnes’ Arbeitszimmer wird zu seinem Schlafzimmer. Das Bild der von ihr kritisch verehrten Emily Dickinson dreht er zur Wand.
Agnes genießt Bradwens Gegenwart und seinen Geruch, der so viel lebendiger ist als jener der Witwe Evans, den sie an sich wahrnimmt. Der Junge hält ihre Verzweiflung auf. Er schließt ihr den Fernseher an und kocht für sie. Es ist keine Abhängigkeit, in die Agnes sich begibt. Es ist ein letzter Hauch Leben, den sie sich um die Nase wehen lässt. Sie vertraut sich dem Jungen nicht an. Er fragt nicht nach ihrer Geschichte und will nicht von seiner sprechen.
Bakker hat dem Roman ein Dickinson-Gedicht vorangestellt: „Ample make this bed. / Make this bed with awe;“, so beginnt es. Agnes versucht sich an einer Übersetzung. Erst ganz am Ende des Buches gibt es eine: „Üppig mach dies Bett, / Scheu und ehrfurchtsvoll; / Warte dort auf das Gericht / Feierlich und hell. // Die Matratze glatt / Und das Kissen rund; / Keiner Frühe gelber Lärm / Störe diesen Grund.“
Die unnahbare Heldin hat ihren Weg gefunden. Ungestört: Ihr Mann ist noch nicht da, den Jungen hat sie weggesperrt. Bakker bedient keinen Voyeurismus. Alles ist Andeutung, Dickinsons Zitate verstärken die Wucht seiner dichten Sprache. Gerbrand Bakker hat eine starke Frauenfigur erdacht, die kurzfristig vor ihrem eigenen Schicksal zu fliehen versucht, es letztlich aber in die eigene Hand nimmt.
Gerbrand Bakker: „Der Umweg“ Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 229 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-518-42288-5
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.