Filmtipp „Wo ist Kyra?“: Intensives Porträt einer Ausgegrenzten
Wer mit dem Namen Michelle Pfeiffer vor allem Mainstream- und Blockbuster-Produktionen (wie zuletzt „Avengers: Endgame“) verbindet, erlebt in ihrer neuesten Arbeit einige Überraschungen und macht sich die Vielseitigkeit der 61-Jährigen bewusst. „Wo ist Kyra?“ ist alles andere als bombastisch oder glattgebügelt. Vielmehr handelt es sich bei dieser Independent-Produktion um ein ebenso intensives wie düsteres Drama über Menschen am Rande der US-Gesellschaft, das mit lichten oder gar hoffnungsvollen Momenten sehr sparsam umgeht.
So schnell kann der Abstieg gehen
Es erzählt davon, wie schnell es gehen kann, dass jemand unaufhaltsam absteigt, selbst wenn er die besten Absichten hat und mit allen Mitteln gegen den Abwärtsstrudel ankämpft. Mit diesem Sozialrealismus schlägt der Film gewissermaßen einen Bogen zu früheren Pfeiffer-Filmen wie „Frankie & Johnny“, in dem die Aktrice eine alleinstehende Kellnerin spielte.
Seit zwei Jahren ist für Kyra alles anders. Zuerst ist der Mann weg und dann der Job. Also macht sich die Endfünfzigerin von Virgina auf nach New York und zieht zu ihrer Mutter. In der gemeinsamen Wohnung gibt es viel Liebe, aber wenig Geld. Die beiden Frauen leben von der, wie die Ausstattung der in die Jahre gekommenen Bleibe zeigt, nicht gerade üppigen Rente der zunehmend pflegebedürftigen Ruth. Als sie hochbetagt stirbt, steht Kyra auch finanziell vor einer existenziellen Krise. Kurz nach der Beerdigung erfährt sie, dass die Wohnung zwangsgeräumt werden soll.
Enttäuschungen ohne Ende
Kyra klammert sich an jeden Strohhalm. Voller Enthusiasmus stürzt sie sich in die Jobsuche, doch jedes Bewerbungsgespräch erweist sich als Pleite. Dennoch versucht sie, nur mit ein paar Dollars in der Tische, die neue Freiheit zu genießen. Zumindest emotional ist Kyra im Aufwind: Mit Doug (Kiefer Sutherland), einer Kneipenbekanntschaft, beginnt sie eine Affäre. Der von seiner Familie getrennt lebende Altenpfleger hat Verständnis für ihre Lage, auch er kämpft sich durchs Leben. Doch auch Doug kann nicht verhindern, dass Kyras Lage immer misslicher wird. Sie beschließt, die Behörden auszutricksen, um Ruths Rente weiterhin zu kassieren.
Wenn Kyra einsam durch die Straßen zieht, erleben wir eine Welt aus grauen und kalten Farben, in denen die Protagonistin fast verschwindet. Was wohl unterstreichen soll: Kyra gehört in dieser auf Egoismus bedachten Gesellschaft eben nicht mehr dazu. Schmerzlich bewusst wird ihr das, als sie in einer Bar die letzten Münzen für einen Cuba Libre zusammenkratzt.
Realistische Ästhetik, keine Klischees
Regisseur Andrew Dosunmu und Kameramann Bradford Young haben gemeinsam eine Bildsprache entwickelt, die die Unbarmherzigkeit eines Kontextes gerade durch eine realistische Ästhetik greifbar macht und Klischees vermeidet. So wird deutlich: Die Armut ist immer unter uns, aber nicht immer erkennt man sie auf den ersten Blick. Dunkle Töne und Schatten prägen auch die Bilder aus der Wohnung mit ihren vergilbten Tapeten und abgenutzten Teppichen. Für Kyra ist sie zur letzten Zuflucht geworden, umso entschlossener verteidigt sie sie.
Michelle Pfeiffer besticht in diesem Film gerade dadurch, dass sie Kyras wachsende Hoffnungslosigkeit subtil transportiert, ohne dabei ihre gesamte Gefühlswelt auszubreiten. Die enorme Präsenz der Hauptdarstellerin ist umso erstaunlicher, weil sie oft aus ungewohnter Perspektive gefilmt wird. Mal sieht man nur einen Rücken oder ein Teil des Gesichts bleibt verdeckt. Dann wieder eine schonungslose Großaufnahme.
Atmosphärische Dichte bis zum Ende
Die Vielseitigkeit der Kamera und das facettenreiche Spiel der Golden-Globe-Gewinnerin gehen eine faszinierende Symbiose ein, die wesentlich dazu beiträgt, dass die atmosphärische Dichte bis zum Ende ganz oben bleibt. Letzteres rührt auch daher, dass Dosunmu, gewissermaßen entgegen dem realistischen Anspruch, wiederholt Thriller-Elemente einstreut.
So sehen wir einige Male, nach einem plötzlichen Schnitt und untermalt von dissonanten Saitenklängen, eine alte Frau, die Ruth täuschend ähnlich sieht, auf dem Weg zur Bank, um den monatlichen Rentenscheck einzulösen. Vermutlich hätte sich Kyra niemals träumen lassen, dass es so weit kommen würde und sie eines Tages zu dieser Maskerade greift.
Gnadenloser Blick auf Ausgrenzung
Andererseits hat sie ihre Vorstellungskraft in den letzten beiden Jahren immer wieder ausbauen müssen. Dabei wird es bis zum eigentlich mäßig überraschenden, aber eben doch bedrückenden Ende dieses Films bleiben. Eines Films, der in seinem gnadenlosen Blick auf soziale Ausgrenzung auch etwas Erfrischendes hat und der die Extraklasse von Michelle Pfeiffer in Erinnerung ruft.
Info: „Wo ist Kyra?“ („Where is Kyra?“, USA 2017), ein Film von Andrew Dosunmu, Kamera: Bradford Young, mit Michelle Pfeiffer, Kiefer Sutherland u.a., 98 Minuten.
Kinostart: 27. Juni