Filmtipp „Schlaf“: Heimat-Spuk wie bei Kafka und Kubrick
Und plötzlich steht ein Wildschwein in Monas Hotelzimmer. Oder vielleicht doch nicht? Traum und Realität sind in diesem rätselhaften Werk nicht immer klar voneinander zu trennen. Vielmehr nimmt der Spuk auch nach dem Aufwachen kein Ende. Und: Wir erleben, dass Träume die Realität beeinflussen können. Doch was macht Mona (Gro Swantje Kohlhof) überhaupt in dieser merkwürdigen Herberge im schönen Harz?
Ihren Ausgang nimmt die Handlung in den Albträumen von Monas Mutter. Nacht für Nacht erscheinen der in Hamburg lebenden Marlene (Sandra Hüller) seltsame Szenen in einem Hotel. Als sie die Absteige in einem Anzeigenmotiv wiedererkennt, beschließt sie, den Ort zu besuchen. Vielleicht liegt dort die Lösung für ihre Angstzustände, die ihr und Mona den Schlaf rauben? Die Recherche währt nicht lange: Nach einem kurzen Aufenthalt in dem eingangs erwähnten Hotel landet Marlene in der Psychiatrie.
Krankheit der Mutter führt in die Vergangenheit
Mona reist ihr nach. Sie will herausfinden, was ihre Mutter aus der Bahn geworfen hat. Sobald sich die Türen des Hotels hinter ihr schließen, bekommt auch sie die rätselhaften Kräfte dieses Ortes zu spüren. Die Geister der Vergangenheit finden neue Kraft. In diesem Spiel kommt Mona und Marlene eine zentrale Rolle zu. Ungeahnte Zusammenhänge tun sich auf. Und plötzlich macht auch die jüngere deutsche Vergangenheit einen quicklebendigen Eindruck. Es gibt also einiges zu erforschen für Mona. Aber ist sie dem, was sie entdeckt, gewachsen?
Mit sogenannten deutschen Genrefilmen, die sich dem Fantastischen widmen, hat man in Deutschland während der letzten Jahre häufig durchwachsene Erfahrungen gemacht, was meist an einer verworrenen Handlung und holperigen Umsetzung lag. Auch von „Schlaf“ kann man nicht sagen, dass sich jede Szene von selbst erklärt. Wohl aber ist hinter dem zunächst schwer zu ergründenden Geschehen eine Logik zumindest zu erahnen. Nach und nach wird entschlüsselt, worin die Verbindung zwischen den beiden Frauen aus Hamburg, dem umtriebigen Hotelier und der düsteren Vergangenheit dieses ausgestorbenen Ortes besteht. Somit kann man feststellen, dass Regisseur und Co-Autor Michael Venus bei seinem Kinofilmdebüt, das Anfang des Jahres bei der Berlinale gezeigt wurde und dessen Start in den Kinos coronabedingt mehrfach verschoben wurde, eine couragierte, stimmige und dank der sorgfältigen Komposition der Bilder auch auf ästhetischer Ebene überzeugende Inszenierung gelungen ist.
„Heimathorrorfilm“ statt „Heile Welt“
Wer Filmgenuss hingegen damit verbindet, auf jede Frage eine Antwort zu bekommen, könnte enttäuscht sein. Oftmals verfolgen die Zuschauenden das Ganze genauso ratlos wie Mona auf ihrer Wanderung zwischen den Zeiten, wenn sich vor ihren Augen bislang unbekannte Kapitel ihrer Familiengeschichte abspielen.
Wo wir schon beim Thema Genre sind: Thomas Friedrich, der andere Drehbuchautor, sieht „Schlaf“ als „Heimathorrorfilm“, sozusagen als Antithese zum westdeutschen Heimatfilm der 1950er-Jahre mit seinem Heile-Welt-Kult. „Der Film konfrontiert den Heimatfilm mit dem, was er verdrängt hat, dem Schrecken, der bedrückenden Ahnung um ein dunkles, schwermütiges Herz“, so Friedrich. „Die Heimat trifft auf ihre eigene Natur und Geschichte, den Horror – Heimathorror.“
Mit anderen Worten: Wenn „Schlaf“ den Ursprüngen von Marlenes Albträumen zwischen Hügeln und Wäldern nachspürt, porträtiert er zugleich die Menschen und ihren Landstrich. Und damit auch ihre Ängste und Träume. Diese wiederum sind eng mit ihrer Umgebung verbunden. Wie sollte es auch anders sein, wenn in dem in märchenhaftes Licht getauchtem Wald dunkle Geheimnisse schlummern? Der „Heimathorror“ wird in der ganzen Doppeldeutigkeit des Begriffs ausgekostet.
Parallelen zu Lynch, Kafka und Kubrick
Immer wieder spielt der Film mit Symbolen, Schockmomenten und Gewalt. Auch zeigt der Spuk im Hotel Bezüge zu David Lynchs „Lost Highway“, Franz Kafkas „Der Prozess“ und Stanley Kubricks „Shining“. Und auch zu klassischen Märchen. Dieses Potpourri aus Elementen von Märchen, Thriller und Horrorfilm ist durchaus gewagt, wird letztendlich aber von herausragenden Darsteller*innen getragen. Nicht nur, aber gerade Gro Swantje Kohlhof und Sandra Hüller gehen bis an ihre Grenzen und erweisen sich erneut als Ausnahmeerscheinung.
„Schlaf“ (Deutschland 2020), Regie: Michael Venus, Drehbuch: Thomas Friedrich und Michael Venus, Bildgestaltung: Marius von Felbert, mit Gro Swantje Kohlhof, Sandra Hüller, August Schmölzer, Marion Kracht u.a., 102 Minuten.