Filmtipp: Migrationsdrama „Victim“ – Am Anfang war die Lüge
Diese Frau kann offenbar nichts aufhalten. Irina ist auf der Rückreise von der Ukraine nach Tschechien, als sie erfährt, dass ihr Sohn Igor schwer verletzt im Krankenhaus liegt. An der Grenze verlässt sie den Bus, kämpft sich zu Fuß durch den Stau und findet ein Auto, dass sie in die Kleinstadt bringt, die für die Ukrainerin und ihren Sohn zur neuen Heimat geworden ist.
Auf der Intensivstation bricht für Irina eine Welt zusammen. Zeitgleich setzt sich eine Maschinerie der Manipulation in Gang. Schnell scheint festzustehen, wer Igor so brutal zugerichtet hat. Mutter und Sohn werden zum Spielball verschiedener einflussreicher Akteure. Beide spielen allerdings auch ihr eigenes Spiel.
Es könnte überall in Europa sein
Das Spielfilmdebüt des slowakischen Regisseurs Michal Blaško – seine Miniserie „Suspicion“ wurde 2022 bei der Berlinale gezeigt – beschäftigt sich mit verschiedenen Phänomenen der europäischen Einwanderungsgesellschaften. Da wären zum Beispiel Vorurteile und Ausgrenzung. Schauplatz der Geschichte ist die tschechische Provinz, doch sie ließe sich im Grunde überall verorten. Auch die ukrainischen Wurzeln der beiden Protagonist*innen fallen nicht wirklich ins Gewicht.
Wohl aber ihr sozialer Status: Als Zugewanderte aus der Ukraine (der Film wurde vor der russischen Invasion fertiggestellt) werden sie zwar geduldet, stehen in der gesellschaftlichen Hierarchie aber weit unten. Sie sind Außenseiter. Das machen die Szenen aus Irinas Alltag, aber auch Irina selbst immer wieder deutlich. Und sei es nur ihr starker Akzent in der deutschen Synchronfassung.
Die entscheidende Frage: „Waren es Weiße?“
Ins Visier der polizeilichen Ermittlungen zu Igors schlimmen Blessuren geraten Menschen, die in den Augen der Mehrheitsbevölkerung noch viel weiter unten stehen als Ukrainer*innen: Roma. Mit ihnen leben Irina und Igor unter einem Dach. „Waren es Weiße?“, fragt sie ihren Sohn. Der bestätigt ihren Verdacht. Ein Junge aus der Roma-Familie in dem angejahrten Plattenbau wandert hinter Gitter. Das Ganze schlägt hohe Wellen: „Besorgte Bürger“ und Rechtsextremisten versuchen, den Fall zu ihrem Vorteil auszunutzen und starten eine Kampagne. Als Irinas Zweifel an Igors Version zum Tathergang wachsen, ist es längst zu spät.
„Victim“ erzählt noch eine andere Geschichte. Irina tut alles dafür, damit Igor und sie dauerhaft in Tschechien bleiben können. Die neue Staatsbürgerschaft ist für die alleinerziehende Mutter zum Greifen nahe. Und auch der Traum vom eigenen Friseursalon scheint sich zu erfüllen. Dann wäre endlich Schluss mit dem Putzjob in einem Wohnheim für jene Menschen, deren ärmliches Leben sie nie wieder teilen will: arbeitslose Familien aus der Ukraine. Das Drama um Igor verleiht Irinas „Integrationsprojekt“ eine Menge Schwung. Doch es ist offensichtlich, wie fragil dieses Gebilde ist.
Handeln in moralischen Grenzbereichen
Wenn beide Erzählstränge einander berühren, ist der Film am stärksten. Wir erleben Irina als Getriebene, aber auch als Akteurin, die in moralischen Grenzbereichen selbst mit an dem Lügengebilde werkelt, um ihre Existenz in dem EU-Land abzusichern. Aber auch die überdeutlich am Realismus orientierten Szenen aus ihrem Alltag zwischen Wohnung, Klinik und Wohnheim haben dank der schlichten Dialoge und des natürlich anmutenden Lichts eine besondere Kraft.
Beide Stränge zeigen die tschechische Gesellschaft aus der Perspektive jener Menschen, die „dazugehören“ wollen. Zugleich werden Dynamiken zwischen verschiedenen Gruppen am Rande der Gesellschaft ausgelotet.
Ein Leben am Rande der Stadt
Und doch hat der Plot dieses Migrationsdramas seine Schwächen. Da wäre etwa die behäbige Erzählweise des „Kriminalfalles“ im engeren Sinne. Dass man trotzdem bis zum Ende gerne zuschaut, liegt an dem Gespür für die Atmosphäre eines sozialen Brennpunktes, der nicht nur räumlich gesehen am Rande der Stadt liegt.
Und natürlich auch an der ukrainischen Hauptdarstellerin Vita Smachelyuk, die in ihrer ersten Spielfilmrolle zu erleben ist. Hin und her gerissen zwischen Aufbruchsgeist und Resignation, zwischen Lethargie und Atemlosigkeit: Immer wieder findet sie für die letztendlich undurchschaubare Irina berührende und überraschende Nuancen.
Zuwanderung zwischen Schein und Sein
Für den Film – seine Weltpremiere erlebte er bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig – spricht zudem, dass er versucht, Klischees zu brechen und vieles nur andeutet, anstatt es zu überzeichnen. Der rechtslastige Demagoge, der die Geschehnisse um Igor auszuschlachten gedenkt, entpuppt sich nicht etwa als grobschlächtiger Bilderbuchrassist, sondern als kultivierter Student, der nicht sämtliche Karten offenlegt.
Schein und Sein in Zeiten erregter öffentlicher Debatten, nicht nur, aber gerade über Zuwanderung: „Victim“ gibt uns einige Denkaufgaben mit auf den Weg.
Info: „Victim“ (Slowakische Republik, Tschechische Republik, Deutschland 2022), Regie: Michal Blaško, Drehbuch: Jakub Medvecky, mit Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela u.a., 91 Minuten
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