Kultur

Filmtipp "Ein neues Leben": Überleben als Frauensache

Letzter Ausweg Bauernhof: Das Drama „Ein neues Leben“ schildert Krise und Neuanfang in Italien anhand einer Familie. Solidarität ist die große Hoffnung in diesem Film. Selten war der Blick auf Menschen in der Krise so berührend.
von ohne Autor · 17. Juni 2016
Explosives Trio: Maria Concetta (Barbara de Matteis), Ina (Laura Licchetta) und Adele (Celeste Casciaro).
Explosives Trio: Maria Concetta (Barbara de Matteis), Ina (Laura Licchetta) und Adele (Celeste Casciaro).

Italien ist während der letzten Jahre einmal mehr zum Synonym der Krise geworden. Unter jungen Leuten hat sich eine wahre Auswanderungswelle in Gang gesetzt, selbst im einst so prosperierenden Norden bluten ganze Landstriche aus. Doch wie ergeht es denen, die bleiben? Gibt es etwas, was sie zusammenhält oder kämpft jeder für sich?

Italien von der Globalisierung eingeholt

Solidarität als große Hoffnung: Davon ist das Drama „Ein neues Leben“ des italienischen Regisseurs Edoardo Winspeare beseelt. Schauplatz ist ein Städtchen im Salento, dem südöstlichsten Zipfel Apuliens. Die Gegend am Stiefelabsatz wird einerseits als Symbol der Abgeschiedenheit, Langsamkeit und Einfachheit inszeniert: Unendliche Olivenhaine, an deren Ende das Meer glitzert und ein menschenleerer Marktplatz stehen für eine Welt zwischen zeitloser Schönheit und Stillstand. Doch diese Welt wird immer wieder vom globalisierten Kapitalismus eingeholt. Besonders brutal bekommt das die einzige Textilfabrik vor Ort zu spüren.

Schon seit Jahren ächzt sie unter der Billigkonkurrenz aus Fernost, die längst auch in Süditalien nähen lässt. Als die Schuldenlast zu hoch wird, ist Schluss. Adele und ihre Familie verlieren nicht nur ihre Fabrik, sondern auch ihr Haus. Jetzt zeigt sich exemplarisch, wie Krisen Menschen an ihre Grenzen treiben: Sie werden mobilisiert, sich neu zu erfunden, die Krise kann aber auch hart, verblendet, und egoistisch, selbst gegenüber den Liebsten, machen. Vor allem dann, wenn zahllose Enttäuschungen und Verletzungen vorangegangen sind. Denn auch im schönen Salento geht es vielen nur um den eigenen Vorteil, und sei es auf Kosten anderer.

Publikumspreis bei der Berlinale

So ergeht es auch Adele, die sich gezwungen sieht, mit Tochter, Mutter und Schwester auf einen abgelegenen Bauernhof zu ziehen, um dort Gemüse zu ernten und Hühner zu halten. Was dort gedeiht, tauschen sie gegen Benzin und Medikamente. Es ist ein ungleicher Haufen: Adele opfert sich als alleinerziehende Mutter auf und fühlt sich zu kurz gekommen, was sie besonders ihre Tochter Ina spüren lässt. Die wiederum träumt von einem Leben als reiche Ehefrau und vertreibt sich die Zeit mit Affären. Ihre Schwester Maria Concetta hofft auf den Durchbruch als Schauspielerin. Der Bruder hat sich für einen Job in die Schweiz abgesetzt. Mutter Salvatrice hält den Laden irgendwie zusammen und lebt, zunächst ganz heimlich, ihren eigenen Traum. „Wer Schulden hat, verliebt sich nicht“, sagt Adele. Ihre Verhärtung scheint für die Ewigkeit gemacht wie die Olivenbäume und das Rauschen des Windes. Doch die schmerzhafte Neuorientierung hält auch für sie einige Überraschungen bereit.

„Vielleicht ist die horrende ökonomische Krise, in der wir leben, ein guter Moment, um innezuhalten, um uns klar zu werden, was wir eigentlich tun, und um Dinge zu ändern“, sagt der 1965 geborene Winspeare über seinen Film, der bei der Berlinale einen Publikumspreis bekam. Diese zunächst etwas pathetisch anmutende, in Wahrheit aber an den Selbsterhaltungstrieb eines jeden Menschen appellierende Einsicht bildet den Kern dieser Geschichte. Zumal vor dem Hintergrund eines Milieus, wo sich viele mit dem Bestehenden abgefunden haben. Oder daran gescheitert sind, sich oder die Dinge weiterzuentwickeln.

Das Matriarchat und die Schönheit der Schöpfung

In diesem Rahmen werden die sonnendurchfluteten Weiten Apuliens zu einer Metapher für die Welt. Gleichwohl bieten Land und Leute dafür eine atmosphärische Kulisse, die selbst zum Akteur vor der Kamera wird. Die fast schon dokumentarischen Bilder vermitteln einen intensiven Eindruck von den Menschen und ihrer Umgebung. Das liegt auch daran, dass ausschließlich Laiendarsteller zu sehen sind. Eine ehemalige Schuhverkäuferin, eine Köchin, ein Trucker und viele andere begeistern in ihrem Spiel sowohl durch Schnörkellosigkeit und eine hintergründige Sinnlichkeit. Mag die Idealisierung der „starken süditalienischen Frau“ oder von Familie und Gemeinschaftssinn in einer Art Matriarchat auch fragwürdig erscheinen: Selten war der Blick auf Menschen in der Krise so berührend.

Info: „Ein neues Leben“ („In grazia di Dio“, Italien 2014), Regie: Edoardo Winspeare, mit Celeste Casciaro, Laura Licchetta, Anna Boccadomo, Barbara de Matteis u.a., u.a., OmU, 128 Minuten

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