Filmtipp „The Dissident“: Packender Dokuthriller über den Kashoggi-Mord
Immer wieder gleitet die Kamera durch abweisende Hochhausschluchten. Insider berichten vor düsterer Kulisse, wie sich die Schlinge einer verschwörerischen Clique immer enger um den Hals ihres Todfeindes legt. Ein grausamer Mord wird bis ins letzte Detail rekonstruiert. All das ist zweifelsohne der Stoff, aus dem Thriller gemacht sind. Auch wenn man es angesichts von bis ins Klischee getriebenen Genreelementen kaum glauben mag: Dieser Thriller ist echt!
Jamal Khashoggi – eine wichtige Stimme der arabischen Welt
Der saudische Journalist Jamal Khashoggi war der wohl prominenteste Kritiker der Öl-Monarchie. Seit 2017 lebte er in den USA. Doch auch dort wurde er bedroht. Am 2. Oktober 2018 verstummte diese wichtige Stimme der arabischen Welt. An diesem Tag betrat Khashoggi das saudische Konsulat in Istanbul, um Dokumente für seine bevorstehende Hochzeit abzuholen. Er kehrte nie zurück.
An diesem Tag starb auch die Hoffnung all derer, die Saudi-Arabiens machtbewussten Kronprinzen Mohammed bin Salman für einen ernsthaften Reformer gehalten haben. Untersuchungen der Vereinten Nationen, des US-Senats und türkischer Sicherheitsbehörden lassen keinen Zweifel daran, dass die Ermordung Khashoggis in Istanbul auf Befehl des Thronfolgers geschah.
Vom Insider zum Todfeind
Wie kam es dazu, dass der einstige Freund der Königsfamilie zum Gejagten wurde? Und was für ein Mensch war dieser Insider und Journalist, der in TV-Interviews ebenso scharfsinnig wie charismatisch und sympathisch wirkte? Gespräche mit Weggefährt*innen, Zeitzeug*innen und Ermittler*innen zeichnen ein eindringliches Bild von Khashoggi und seinem letztendlich tragischen Lebensweg.
Anhand von Abhörprotokollen werden seine letzten Momente in der Hand des eingeflogenen Mordkommandos behandelt. Über dieses entscheidende Quellenmaterial, das die Verschleierungstaktik der Saudis zum Wanken brachte, wurde seinerzeit in Medien berichtet, doch im Rahmen dieser Erzählung entfalten die Auszüge eine ganz andere Wirkung.
Doch Bryan Fogels Dokuthriller – für „Ikarus“, einen Dokumentarfilm über das russische Staatsdoping, erhielt der Regisseur 2018 einen Oscar – beschränkt sich nicht allein auf Khashoggis Schicksal. Er zeigt auf, wie der Kampf der saudischen Führung gegen jegliche Opposition längst zu einem globalen Cyberkrieg geworden ist. 80 Prozent der Saudis nutzen Twitter. Auch für Regimegegner*innen im Ausland ist der Online-Dienst unverzichtbar. Im Gegenzug hat „MBS“, wie der Kronprinz von vielen genannt wird, seine Cyberarmee in Stellung gebracht, um das Nachrichtengeschehen zu manipulieren.
Saudi-Arabien: ein unerbittliches Regime
Das bekommt nicht zuletzt Omar Abdulaziz zu spüren. Mit einer kleinen Gruppe kämpft er vom kanadischen Exil aus gegen das Königshaus, das nicht nur sein Heimatland, sondern auch seine Familie drangsaliert. Abdulaziz ist der zweite Anker dieser Erzählung über die Unerbittlichkeit eines Regimes, das beste Kontakte zu westlichen Demokratien pflegt und von diesen nach dem widerwärtigen Mord eher zurückhaltend kritisiert wurde.
Durch den parallelen Fokus auf Abdulaziz, der mit dem Mordopfer in Verbindung stand, wird der Erzählstrang über Khashoggi umso eindringlicher, weil er eine Brücke in die Gegenwart schlägt. Und möglicherweise auch in die Zukunft. Denn auch das macht der Film unmissverständlich deutlich: Derzeit lässt sich der Zirkel um „MBS“ von nichts und niemand stoppen, um gegen Kritiker vorzugehen – zumindest, solange die Welt saudisches Öl kauft. Auch ausländische Wirtschaftsbosse sind nicht sicher vor Hackerangriffen auf ihr Handy. Dass man bei all dem an die digitalen Aktivitäten anderer Diktaturen denkt, ist durchaus beabsichtigt.
Zerstörte Träume
So gesehen ist „The Dissident“ Anklage und Warnung zugleich. Beider Wirkung ergibt sich aus den Aussagen einer beeindruckenden Vielzahl von Interviewpartner*innen, darunter der besagte Omar Abdulaziz, der frühere CIA-Direktor James O. Brannan sowie Agnès Callamard, Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen.
Und nicht zuletzt Khashoggis Verlobte Hatice Cengiz: Jene Frau, die am 2. Oktober 2018 vor dem Konsulat vergeblich auf ihren Verlobten wartete. Wie ein Lebenstraum der brutalen Gier nach Macht und Profit geopfert wird, auch davon erzählt dieser aufwendig inszenierte, aber letztlich immer auf seinen moralischen Kern ausgerichtete und politisch hellwache Film, der 2020 beim Sundance Film Festival uraufgeführt wurde. Dass es lange Zeit brauchte, um dafür einen Vertrieb zu finden, spricht für sich.
Info: „The Dissident“ (USA 2020), ein Film von Bryan Fogel, Kamera: Jake Swantko, mit Jamal Khashoggi, Hatice Cengiz, Omar Abdulaziz, Mohammed bin Salman u.a., 118 Minuten, Sprachen: Deutsch/OmU
Ab 16. April als Online-Video (EST), ab 23. April als TVoD
https://www.thedissident.com/