Kultur

Filmtipp „Der Zeuge“: Ein KZ-Überlebender rechnet mit den Nazis ab

Die Aussagen des ehemaligen KZ-Insassen Carl Schrade brachten viele Nazis hinter Gitter. Das Gerichtsdrama „Der Zeuge“ legt die innere Logik des Lagerterrors offen und setzt ein Zeichen gegen das Vergessen.
von ohne Autor · 3. März 2023
Irritierend: Woher hat der KZ-Überlebende Carl Schrade (Bernd Michael Lade) sein immenses Wissen?
Irritierend: Woher hat der KZ-Überlebende Carl Schrade (Bernd Michael Lade) sein immenses Wissen?

Dieser Film ist ein Tribunal. Mit einem klassischen Gerichtsdrama hat er allerdings wenig zu tun. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, irgendwo in Westdeutschland: Auf der Anklagebank sitzt eine Reihe von Nazi-Größen. In deutschen Konzentrationslagern hatten sie wichtige Posten. Die prominenteste von ihnen ist Ilse Koch, die berüchtigte Witwe von Karl Koch, dem nicht weniger berüchtigten Kommandanten von Buchenwald. Auf der anderen Seite des Gerichtssaals hat ein Mann Platz genommen, der die Hölle, die sie schufen, überlebt hat. Bis ins kleinste Detail berichtet er von brutalster Gewalt und skrupelloser Ausbeutung.

Elf Jahre in Konzentrationslagern

Diesen Mann gab es wirklich. Elf Jahre brachte Carl Schrade (1896-1974) in Buchenwald, Flossenbürg und anderen Lagern zu. Nach dem Ende der NS-Herrschaft trat er als Zeuge in etlichen Prozessen gegen NS-Funktionäre auf. Sein Leidensweg brachte ihm so viel Wissen ein, dass sich manche fragten, wie es möglich war, sich solch einen Fundus zu erarbeiten, ohne selbst Teil des Systems gewesen zu sein.

Derlei Fragen beantwortete Schrade in seinem Erinnerungsbuch „Elf Jahre. Ein Bericht aus deutschen Konzentrationslagern“. Es sind die Erinnerungen eines Menschen, der als „Berufsverbrecher“ in der Häftlingshierarchie weit oben stand. Ein Überlebensgarantie war das nicht. Das Werk erschien allerdings sehr spät, nämlich vor acht Jahren.

Grausam erworbener Schatz von Erfahrungen

Für Bernd Michael Lade war dieser grausam erworbene Erfahrungsschatz der entscheidende Impuls für seinen Film. „Der Zeuge“ ist im Grunde eine Abfolge von Rede und Gegenrede. In dieser Konfrontation offenbaren sich perfide Verteidigungsstrategien und menschliche Abgründe. Ihnen stehen Schrades monströse, aber äußerst faktenreiche und mit sonorer Stimme vorgetragenen Berichte gegenüber. In der Synthese wird die Maschinerie des NS-Lagersystems evident, gerade auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Das Leiden der Häftlinge war ein Riesengeschäft.

Für gewöhnlich leben Gerichtsdramen von der Interaktion zwischen Gericht, Anklage und Verteidigung und den entsprechenden rhetorischen Finessen. In „Der Zeuge“ haben allein Schrade und die Angeklagten das Wort. Die US-Juristen und der Verteidiger schweigen, ihr Agieren spiegelt sich nur indirekt in der Handlung wider. Um zusätzliche Bewusstseinsebenen zu ermöglichen, folgt der Film auch dem Blickwinkel einer US-Gerichtsreporterin (gespielt von Maria Simon) und zweier Übersetzerinnen. Sie übertragen die Aussagen vom Englischen ins Deutsche und umgekehrt. So können die Zuschauer*innen das Gesagte immer noch einmal Revue passieren lassen.

Film gegen das Vergessen, Warnung an die Gegenwart

Dass Schrade nur Englisch spricht, ist ein Zeichen von Distanz, unterstreicht aber auch die kosmopolitische Attitüde des Deutschen mit Wurzeln in der Schweiz, der nach dem Krieg wieder als Handlungsreisender durchstartete. Lade – er agierte als Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller – wollte mit dem Fokus auf das Englische aber auch eine internationale Kinoauswertung dieser ohne jede öffentliche Förderung realisierten Produktion begünstigen. „Der Zeuge“ ist ein Film gegen das Vergessen. Und eine Warnung an die Gegenwart.

Das Kammerspiel wurde mit einfachsten Mitteln (der Dreh fand in einer ehemaligen Berliner Brauerei statt) inszeniert, lässt bei der Gestaltung aber keine Wünsche offen. Eindringliche Großaufnahmen zeigen die Auftretenden aus verschiedenen Perspektiven und der wuchtige Ton vermittelt das Gefühl, selbst mit im Gerichtssaal zu sitzen. Nicht zuletzt lebt der Film, der mehrere Gerichtsverhandlungen zu einer großen Abrechnung verdichtet, von einer großartigen Ensembleleistung der Schauspieler*innen. Auch dank der nuancierten Regie tritt uns jede Figur als Individuum gegenüber, selbst wenn wir nur eines kleinen Ausschnittes aus ihrem Leben habhaft werden.

Ein Drama über Schuld und Unschuld

All das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die konfrontative und streng strukturierte Erzählweise nach einer gewissen Zeit für Ermüdungserscheinungen sorgt. Lade schont weder die Protagonist*innen noch die Zuschauenden. Letztere fragen sich irgendwann, wohin dieser Film eigentlich will. Der Moment, als Schrade vor Gericht selbst unter Druck gerät, hätte wirkungsvoller platziert werden können.

Dennoch bietet dieses Werk über Schuld und Unschuld und die Frage, wie man in einem unmenschlichen System überlebt, ohne selbst zum Unmenschen zu werden, ein intensives Kinoerlebnis.

Info: „Der Zeuge" (Deutschland 2022), ein Film von Bernd Michael Lade, mit Bernd Michael Lade, Maria Simon, Lina Wendel, Dirk Wäger u.a., 93 Minuten. Im Kino

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