Kultur

Filmtipp „Der Prinz“: Sexuelle Freiheit für Männer hinter Gittern?

Ein schwules Idyll als gesellschaftliche Utopie: Das Drama „Der Prinz“ liefert eindringliche Bilder vom Gefängnisalltag zu Beginn einer neuen politischen Ära in Chile.
von ohne Autor · 8. Januar 2021
Verwirrt: Jaime, der Prinz (Juan Carlos Maldonado), entdeckt eine neue Welt.
Verwirrt: Jaime, der Prinz (Juan Carlos Maldonado), entdeckt eine neue Welt.

Wie steht es um die Liebe und das Aufgehobensein ausgerechnet an einem Ort, wo gewöhnlich Brutalität und Zwang herrschen? Dieser Frage geht Sebastián Muñoz in seinem Debüt als Spielfilmregisseur nach. Ort des Geschehens ist ein heruntergekommener Knast irgendwo in Chile im Jahr 1970. In den überfüllten Zellen bröckelt der Putz von den Wänden. Mehrere Männer müssen sich ein Bett teilen. Von den Aufsehern weitgehend sich selbst überlassen, leben die Insassen in einem hierarchischen Geflecht, das sich Außenstehenden nur schwer erschließt.

„Respekt“ gegenüber dem „Hengst“

In einer dieser Zellen steht der Neuankömmling Jaime. Der ängstliche junge Mann kann nicht glauben, wo er gelandet ist. Den vier Zellengenossen, die ihn eindringlich mustern, kann er kaum in die Augen schauen. In diesem Moment ist ihm nicht klar, dass er es vergleichsweise gut erwischt hat. Der deutlich ältere Zellenboss Ricardo, genannt „El Potro“ („der Hengst“), nimmt sich seiner an. Zugleich macht er ihm deutlich, dass ihm massive Probleme drohen, wenn er keinen „Respekt“ zeigt.

Als abends das Licht abgestellt wird und Jaime zu Ricardo ins Bett beordert wird, bekommt der „Neue“ die Machtstrukturen am eigenen Leib zu spüren. Mit einer Mischung aus Angst und Neugier lässt er den sexuellen Übergriff über sich ergehen. Anders als erwartet, ist dies der Anfang einer zärtlichen Freundschaft. Fortan trägt Jaime den Spitznamen „Prinz“ und genießt Ricardos Schutz.

Wenn Männer zueinanderfinden

Mit ihm und durch ihn lernt er eine Sphäre kennen, die genau das zu bieten scheint, das er sich draußen vergeblich erhofft hat: als schwuler Mann akzeptiert zu werden und seine Erfüllung zu finden. In diesem düsteren Ort voller Schmutz und Hoffnungslosigkeit finden viele Männer zueinander, oftmals vor allem deswegen, um sich nicht aufzugeben. Das erklärt, warum viele dennoch über „die Schwuchteln“ lästern.

Ein schwules Idyll in einem südamerikanischen Gefängnis vor gut 50 Jahren? Dieser Ansatz erscheint gewagt, ist aber kein Selbstzweck. Muñoz skizziert diesen Hort unerwarteter Freiheiten als Gegenwelt zu einer Gesellschaft, die gleichgeschlechtliche Liebe ächtet und auch darüber hinaus von einem fragwürdigen Moralkodex geprägt ist. Überdies machen die Übergriffe der Bewacher deutlich, dass dieses Idyll, sofern es überhaupt eines ist, einer ständigen Bedrohung ausgesetzt ist.

All das geschieht am Vorabend des Machtantritts des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Viele glaubten damals an eine bessere, weil gerechte und menschenfreundliche Zukunft des Landes. Nur drei Jahre später endete der Aufbruch mit dem Putsch der Militärs um Augusto Pinochet und Chile versank in einer blutigen Diktatur.

Atmosphärisch dichte Bilder vom Häftlingsalltag

So gesehen lässt sich das sinnenfrohe Knastleben auch so verstehen: Hinter Gittern ist man(n) viel weiter als die Menschen da draußen. Der politische Kontext bleibt allerdings blass. Weitaus eindrucksvoller ist die Art und Weise, mit der es uns ermöglicht wird, in den Häftlingsalltag einzutauchen.

Zum Beispiel durch die Farbgebung. Muñoz, der als Produktionsdesigner an zahlreichen Werken des zeitgenössischen chilenischen Kinos mitgewirkt hat, setzt bei den Knastbildern auf satte Erdtöne. Das verleiht der an sich abstoßenden Szenerie mitunter einen warmen Anstrich und unterstreicht die atmosphärische Dichte dieser sehr realistisch gehaltenen Erzählung, die auf dem gleichnamigen Roman von Mario Cruz basiert.

Anfang der 70er-Jahre scheuten sich Chiles Verlage, das freizügige Werk auf den Markt zu bringen. Dennoch fand das im Eigenverlag veröffentlichte Buch ein großes Publikum. Muñozs Film ist gewissermaßen ein Versuch, die literarische Vorlage zu rehabilitieren.

Die Zukunft bleibt im Schwebezustand

Der Plot hält vieles in der Schwebe. Rückblende für Rückblende erfahren wir, wie es dazu kam, dass Jaime seinen besten Freund umgebracht hat, den er heimlich begehrte. Zugleich ist nicht abzusehen, wo und wie Jaimes Weg hinter Gittern enden wird. Durch seine Verbindung mit Ricardo setzen sich in ihm Wandlungen in Gang, die nicht nur den Zuschauenden, sondern auch ihm selbst zunächst diffus erscheinen. Die Fragilität dieses Daseins bleibt stets spürbar.

Nicht zuletzt ist es dem nuancierten Spiel des gestandenen Film- und Theaterdarstellers Alfredo Castro als „El Potro“ und seines gut halb so alten Kollegen Juan Carlos Maldonado in der Hauptrolle zu verdanken, dass einen diese Geschichte immer wieder anrührt, überrascht und erschreckt.
 

Info:

„Der Prinz“ (Chile/ Argentinien/ Belgien 2019), ein Film von Sebastián Muñoz, Kamera: Enrique Stindt, mit Juan Carlos Maldonado, Alfredo Castro, Cesare Serra, Gastón Pauls u.a., 96 Minuten, OmU, ohne FSK

Jetzt auf DVD und als Video on Demand

https://salzgeber.de/prinz

 

 

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