Filmtipp „Das Blau des Kaftans“: Liebe ist stärker als Verbote
Aufwendig verzierte Prachtgewänder in wochenlanger Handarbeit schneidern: Auch in Marokko stirbt diese jahrhundertealte Handwerkstradition aus. Mit dem Konsumtempo der Gegenwart kann sie nicht mithalten. Trotzdem widmet sich Schneider Halim dem Tagwerk in seiner Werkstatt mit voller Hingabe. Es ist wahre Liebe. Wenn man sieht, wie seine Hände sanft über die Seide der Kaftane gleiten, wird einem klar, dass es gar nichts Anderes sein kann.
Sobald Halim in seinem kleinen Laden behende mit Faden und Stoff hantiert, lebt er auf und ist ganz bei sich. Das hat auch damit zu tun, dass er ein belastendes Geheimnis mit sich herumträgt: Halim ist homosexuell. Schwulsein ist in der konservativen Umgebung der engen Altstadtgassen von Salé nicht nur verpönt, sondern auch gefährlich: Wer in Marokko offen homosexuell auftritt, riskiert eine Gefängnisstrafe.
Ein Gleichgewicht gerät ins Wanken
Halims Frau Mina weiß, was in ihm vorgeht. Sie akzeptiert die Neigungen ihres Partners. Stark ist die Liebe zwischen den beiden. Wie stark, offenbart sich erst im Laufe des Films. Nämlich ab dem Moment, als der Auszubildende Youssef in das Leben des Paares tritt. Mit Youssef verbindet Halim die Hoffnung, in einer Zeit, wo Handwerksberufe zunehmend unattraktiv werden, jemanden gefunden zu haben, an den er sein Können weitergeben kann.
Und vielleicht eines Tages auch das Geschäft. Zunächst steht aber eine ganz andere Wendung im Raum: Der talentierte junge Mann droht das über Jahrzehnte entwickelte Gleichgewicht zwischen Mina und Halim ins Wanken zu bringen. Eifersüchtig verfolgt die Chefin den Neuen auf Schritt und Tritt.
Die vielen Gesichter der Liebe
In ihrem zweiten Langfilm widmet sich die marokkanische Regisseurin Maryam Touzani („Adam“) der allumfassenden Kraft und den vielen Gesichtern der Liebe. Die 43-Jährige zeigt, dass sich die Liebe auch daran misst, was man für den geliebten Menschen und auch für die Liebe als solche zu tun bereit ist. Und wie essenziell die Freiheit ist, so zu lieben wie man möchte, mögen die Umstände auch widrig sein. Kurzum: Es geht darum, wie Menschen im Zeichen der Liebe über sich hinauswachsen und so eine freie Gesellschaft überhaupt erst möglich machen.
Auch dieser zentrale Aspekt wird erst nach einiger Zeit erkennbar. Eine ganze Weile verharrt „Das Blau des Kaftans“ in der Schneiderei-Routine. Und doch liegt in diesen Bildern und dem Wechselspiel von Licht und Farben eine besondere Kraft. Sie rührt von der besonderen Energie zwischen drei Menschen in einer dynamischen Konstellation. Diese Energie speist sich auch aus der Angst vor den eigenen Gefühlen.
Immer wieder hält der wirtschaftliche Hintergrund Einzug in die Geschichte. Mina, Halim und Youssef arbeiten am Limit. Der finanzielle Druck ist stets spürbar. Kund:innen, denen der Kaftan nicht extravagant genug sein kann und die ihn dennoch am liebsten gleich mitnehmen würden, machen dem Trio das Leben schwer. Dennoch verdeutlichen die ebenso sinnlichen wie dokumentarisch präzisen Bilder von Stoffen, Nadeln und Fäden, warum vor allem Halim an seinem wie aus der Zeit gefallenen Geschäft festhält.
Abschied und Verwandlung
Mina und Halim tragen eine weitere schwere Bürde. Mina ist todkrank. Je weiter die Krankheit fortschreitet, umso klarer wird ihr, dass sie ihren Mann beschützen muss. Und zwar, indem sie ihn darin bestärkt, er selbst zu sein. Und darin, bei der Frage, wen und wie er liebt, nur seinem Herzen und keinen engstirnigen Konventionen zu folgen. Sie muss ihn befähigen, sich zu verwandeln. Mina leistet Übermenschliches. Derweil begleitet Halim sie dabei, von ihrem Leben Abschied zu nehmen.
Liebe und Freiheit: Maryam Touzani findet in ihrem kammerspielartigen Drama überraschende Nuancen und Rollenbilder, um die Bedeutung dieser Grundbedingungen einer menschenwürdigen Existenz zu unterstreichen. In subtiler Weise vermitteln die drei Hauptdarsteller:innen die komplizierten Beziehungen untereinander. Mit Minas Stimmung wandelt sich auch die Tonalität des Ganzen. Die Kamera kennt keine Gnade und lässt dennoch Raum für eine ganz eigene Poesie.
Bei den Filmfestspielen in Cannes gewann Marokkos Beitrag für die Auslands-Oscars im vergangenen Jahr den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik. Bei allem Lokalkolorit einer nordafrikanischen Medina: Dieser Film transportiert universale Botschaften in Sachen Toleranz und Vielfalt. Maryam Touzani zeigt eine untergehende Welt fernab der Sentimentalität. Dadurch gewinnt ihr hochaktuelles Werk eine ganz besondere Magie.
Info: „Das Blau des Kaftans“ (Frankreich, Marokko, Belgien, Dänemark 2022), ein Film von Maryam Touzani, Kamera: Virginie Surdej, mit Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui u.a., 122 Minuten, jetzt im Kino