„Eine Erklärung für Alles“: Lehrstück über Ungarn unter Viktor Orbán
Ein Schüler vergeigt die Abi-Prüfung und sorgt für einen landesweiten Skandal. Der Film „Eine Erklärung für Alles“ zeigt, wie Fake News das gesellschaftliche Klima vergiften. Das Porträt von Ungarn unter Viktor Orbán ist eine Warnung.
Grandfilm/Vajda Réka
Stunde der Wahrheit im Prüfungssaal: Oberstufenschüler Ábel kämpft mit den Erwartungen, die auf ihm lasten.
Nur noch diese eine Prüfung trennt Ábel von einem unbeschwerten Sommer mit seinen Freundinnen und Freunden. Sie gilt ohnehin als Formsache: An dem Budapester Gymnasium sind in elf Jahren nur zwei Schüler*innen durchgerasselt. Und in Ábels gutbürgerlicher Familie hat bislang ohnehin jede und jeder die Abiturprüfung bestanden. Was soll also schiefgehen?
Ein Ungarn-Anstecker sorgt für Ärger
Doch als der schlaksige Oberstufenschüler vor der Prüfungskommission steht, kommt alles ganz anders. Kein Wort bringt er zu dem verlangten Thema im Fach Geschichte über die Lippen. Man spürt förmlich, wie der junge Mann mit sich kämpft. Als wäre all das nicht schon genug, zeigt sich ein Lehrer irritiert von dem Ungarn-Anstecker am Sakko von Ábel. Dessen Verwirrung ist nun komplett. Und es herrscht der Eindruck, dass sich daran bis zum Ende des Films wenig ändert.
Was war denn da los? Das fragt sich nicht nur Ábels zutiefst enttäuschter Vater. Häppchenweise und bisweilen in Rückblenden liefert der Film „Eine Erklärung für Alles“ die Antwort darauf, auch wenn einiges in der Schwebe bleibt. Die von Regisseur und Gábor Reisz entwickelte Handlung beleuchtet aber nicht nur die Situation eines unglücklich verliebten Heranwachsenden, der damit überfordert ist, sich auf die Geschichte der Industriellen Revolution zu konzentrieren. Es geht um viel mehr, nämlich um die aufgeheizte Stimmung in der von Viktor Orbán ausgerufenen „illiberalen Demokratie“ in Ungarn.
Erkennungszeichen der Orbán-Fans
Missverständnisse eignen sich hervorragend, um vermeintliche Skandale und erregte öffentliche Debatten loszutreten. Das gilt auch für Ábels Fall. Eine junge Journalistin erfährt von dem Gerücht, ein Schüler (also Ábel) sei bei der Abschlussprüfung durchgefallen, weil er einen Anstecker mit den Farben der ungarischen Flagge getragen habe – wurde das Accessoire früher zur Erinnerung an die Revolution von 1848 getragen, gilt es heute als Erkennungszeichen der Nationalkonservativen um Orbán und seine Fidesz-Partei. Mit dem Tenor „Verrat an der nationalen Sache durch linke Lehrer*innen“ platziert die Journalistin einen Aufmacher über Ábel in der Rechtsaußen-Presse. Und der ist plötzlich landesweit bekannt.
Politische Gegner*innen verächtlich machen, Fakten verdrehen und überall Verrat wittern: Tendenzen, die seit Jahren das Klima in Ungarn vergiften und einen gesellschaftlichen Diskurs fast unmöglich gemacht haben, werden in Reiszs Drama um einen verpeilten Schüler verdichtet. Erst nach und nach wird deutlich, wie alles miteinander zusammenhängt. Dass einige Figuren vielschichtiger angelegt sind als gedacht, macht die Geschichte glaubwürdig und spannend, wenngleich der zweistündige Film nicht ohne Längen ist.
Ábels Vater entpuppt sich als lupenreiner Orbán-Fan, ohne dabei als Karikatur eines nationalistischen Wutbürgers zu erscheinen. Den ideologischen Gegenpart bildet Ábels besagter Lehrer aus der Prüfungssituation: Der eher linksliberal orientierte Pädagoge kommt keinesfalls als Held rüber, stellt sich aber immerhin der Auseinandersetzung mit Ábels Vater, wenngleich es der Film bei dem Showdown mit dem Realismus nicht so genau nimmt.
Die Normalität des Irrsinns in Ungarn
„Eine Erklärung für alles“ ist ein lehrreiches und berührendes Stück über die Normalität und die Macht des Irrsinns und auch über Fake News als Schmierstoff für Karrieren. Somit sollte er als Warnung zu verstehen sein. Wie heikel ein derartiges Filmprojekt im Ungarn von heute ist, zeigt sich darin, dass es dort dafür keine öffentliche Filmförderung gegeben hat. Reisz und Produzentin Júlia Berkes stemmten das Ganze auf eigene Faust unter Low-Budget-Bedingungen.
In den staatlichen Medien habe der Film und dessen Erfolge auf Festivals im Ausland (unter anderem eine Auszeichnung als Bester Film bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig) keinerlei Beachtung gefunden, heißt es. All dies zeigt, dass Reisz mit seinem etwas fahrig anmutenden Film sehr viel richtig gemacht hat.
„Eine Erklärung für alles“ (Ungarn/Slowakei 2023), Regie: Gábor Reisz, Drehbuch: Gábor Reisz und Éva Schulze, mit Gáspár Adonyi-Walsh, Rebeka Hatházi, András Rusznák, Eliza Sodró u.a., 151 Minuten, FSK ab 8 Jahre
Kinostart: 19. Dezember
Weitere Infos unter grandfilm.de