Kultur

Ein schwieriges Verhältnis

von Kai Doering · 2. März 2012

Am Sonntag wählt Russland einen neuen Präsidenten. Konsequenzen hat das auch für Deutschland. Russland-Kenner Alexander Rahr hat den „kalten Freund“ im Osten unter die Lupe genommen.

Anfang der 90er Jahre befand sich Russland im Chaos. Nach dem misslungenen Putschversuch im August 1991 war die Sowjetunion zwar endgültig zerbrochen und hatte der Russischen Föderation unter Boris Jelzin Platz gemacht. Doch was zunächst vielversprechend klang, hatte seine Schattenseiten: „Die Radikalität, mit der die völlig unvorbereitete Gesellschaft in die Demokratie und den Kapitalismus überführt wurde, stürzte das Land in eine Wirtschaftskrise und tiefe soziale Depression“, analysiert Alexander Rahr die Situation rückblickend. Der Leiter des Berthold-Beitz-Zentrums für Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hat schon viele Bücher über Russland, seine Protagonisten und das Verhältnis zum Westen veröffentlicht. „Der kalte Freund“ lautet der Titel des jüngsten.

Der Blick zurück in die Anfänge des neuen russischen Staates dient Rahr dabei zu erklären „Warum wir Russland brauchen“. Im Zentrum steht dabei Russlands Rolle als Energieversorger Europas. Allein drei der dreizehn Buchkapitel sind dem Thema gewidmet. „Ohne russische Energie, Rohstoffe, Bodenschätze und den russischen Markt wird die EU ihren gegenwärtigen Wohlstand dauerhaft nicht sichern können“, prophezeit Rahr. Als Beleg führt er etwa den ukrainisch-russischen Gasstreit aus den Jahren 2005 und 2006 an, in dessen Folge auch in Westeuropa Lieferungen aus- und deutsche Wohnungen kalt blieben. Ein beängstigendes Szenario, wenn man bedenkt, dass Russland sowohl  beim Erdgas wie beim Erdöl der zweitgrößte Lieferant der EU ist.

Zerbrechliche Vormachtstellung

Doch die vermeintliche Vormachtstellung ist zerbrechlich. „In den nächsten 20 bis 30 Jahren kann Russland in einer Welt, die immer stärker von Rohstoffen und Energie abhängen wird, die Rolle einer Energiesupermacht spielen“, schreibt Rahr. Danach gingen die fossilen Energiereserven allerdings zusehends zur Neige – und herkömmliche Techniken zur Energiegewinnung würden durch neue, rohstoffunabhängige ersetzt. Für Russland, das seine Wiederauferstehung aus den Ruinen des Kommunismus vor allem den Petro-Dollars aus dem Westen verdankt, könnte dies zu einem ernsten Problem werden.

Alexander Rahr beschreibt diese Verquickung von Rohstoffexporten, Wohlstand und politischer Stabilität mit einem fundierten Blick in die zwanzigjährige Geschichte nach dem Zerfall der Sowjetunion – und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. „Die Herrscher tauschten nur das kommunistische Gewand gegen das kapitalistische. Sie errichteten ihre autoritären Machvertikalen, Demokratie blieb nur Fassade.“ Mit dem Machantritt von Wladimir Putin, dem der erste russische Präsident Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 die Amtsgeschäfte übergab, wurde diese Tendenz noch verstärkt.

„Nach dem Prinzip: Der Zweck heiligt die Mittel schränkte Putin kurzerhand den demokratischen Pluralismus ein, errichtete eine zentralistische Machvertikale, entmündigte das Parlament, entmachtete die Oligarchen, stellte das Staatsmonopol über die wichtigsten Industriezweige wieder her (…) und brachte Russland als handlungsfähigen Akteur wieder in die erste Liga der Weltpolitik zurück“, lautet Rahrs Fazit der ersten Präsidentschaft Putins. Im verunsicherten und sich gedemütigt fühlenden Volk kam das an: „Putin gab vielen Russen die Würde zurück.“

Mitschuld des Westens

Rahr attestiert dem Westen nämlich eine Mitschuld an der autoritären Entwicklung in Russland. „Der Westen verachtet Russland, weil es mit einem Bein im sozialistischen System, mit dem anderen im nicht weniger verwerflichen wilden Kapitalismus stecken geblieben ist.“ Dabei hätte dies verhindert werden können. „Hätte der Westen nach dem Zerfall der Sowjetunion einen zweiten Marshallplan für alle Sowjetrepubliken entwickelt, wäre viele nachfolgende Konflikte ausgeblieben“, ist Alexander Rahr sicher.

Wie aber geht es weiter mit dem Riesenstaat im Osten? „Eine Rückkehr zum Kommunismus ist in Russland völlig ausgeschlossen“, schreibt Rahr. Das Problem bestehe eher darin, den ausgeuferten Kapitalismus, verkörpert durch die Oligarchen, zu zähmen. Dabei  kommt dem Westen eine besondere Rolle zu. Alexander Rahr sieht Russland als zentralen Bestandteil Europas, schlägt gar einen Beitritt zur EU vor. Fast flehentlich liest sich sein Appell: „Die EU benötigt dringend ein Ziel, ein dynamisches Megaprojekt, um seine Bürger weiterhin für den europäischen Gedanken zu mobilisieren. Sieht Europa nicht, dass Russland sein potenzieller Verbündeter ist?“

Doch die Zeit scheint dafür noch nicht reif zu sein. „Auch 20 Jahre nach der Wende muss konstatiert werden, dass für die Masse der Deutschen Hollywood, McDonalds und der amerikanische Lebensstil attraktiver sind als das in der Sowjetnostalgie verharrende Russland“, schreibt Rahr und warnt: Allzu lange sollte der Westen nicht warten, denn China sei in vielen Punkten nicht so zimperlich, sein Ressourcenbedarf hingegen noch größer als der Europas.

Alexander Rahr: Der Kalte Freund. Warum wir Russland brauchen: Die Insider-Analyse,  Hanser-Verlag 2011, 19,90 Euro, ISBN 978-3-446-42438-8

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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