Das langsame Sterben ihres Vaters ruft in der Ich-Erzählerin Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend wach. Doch es sind keine schönen Momente, die das Gedächtnis zutage fördert. Der Mann, der nun langsam dahinsiecht, war ein Trinker und Eigenbrödler, der seine Familie tyrannisierte. Während die erwachsene Tochter Abschied nimmt, setzt sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinander, betritt Erinnerungsorte, auch wenn es schwerfällt.
Vom Leben und Trinken in der Provinz
Was wünscht sich eine 13-Jährige? "Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn Vater nicht betrunken nach Hause kommen würde, aber das konnte man ohnehin nicht beeinflussen, das hing vom Mond ab oder davon, ob er sich wieder im Werk geärgert hatte, oder von den Kopfschmerzen, über die er klagte." Die Ich-Erzählerin erinnert sich daran, wie sie nachts oft auf den Vater gewartet hat, daran, wie er betrunken nach Hause kam. Und wie er sich am nächsten Morgen an nichts erinnern wollte, "wenn Mutter ihm Vorwürfe machte, nachdem er uns die halbe Nacht wach gehalten hatte in seinem Rausch".
Die Ehe der Eltern war wohl von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Während des zweiten Weltkriegs lernen sie sich kennen. Aus der deutschen Großstadt zieht die Frau zu ihrem Ehemann in die österreichische Provinz. "Hier, in diesem Winkel der Welt, war Mutter die einzige Zugereiste, wie sie hinter vorgehaltener Hand genannt wurde", erinnert sich die Erzählerin. Der Vater arbeitet im örtlichen Metallwerk, trinkt mehr und mehr. "Er zog sich zurück und zog sie mit, Schritt für Schritt, Jahr um Jahr."
Von Abgründen
Die Ich-Erzählerin ist noch ein Kind als ihr Bruder, das älteste von drei Geschwistern, stirbt. Die Ursache, eine Krankheit, wird in der Erzählung nur angedeutet. Breznik rührt an Traumata, gibt den Blick in einen Abgrund frei. In wenigen Sätzen macht sie deutlich, dass mehr als ein kurzer Blick kaum zu ertragen wäre. Im Leser wirken die angerissenen Geschichten umso stärker nach. Der Tod des Bruders, die Tyrannei des Vaters, der Selbstmordversuch der Mutter: auf 120 Seiten der Abriss eines Lebens. Für Kitsch bleibt da kein Platz.
Dann liegt der Vater in dem Krankenhaus, in dem seine Tochter als Ärztin arbeitet. "Am nächsten Morgen gehe ich auf Zimmer fünfundzwanzig zu meinen Alkoholikern und schaue ihnen beim Siechen zu, ich bin Arzt, ich erledige sinnlosen Zettelkram, ich trage ihre Leberwerte in Kurven ein, kümmere mich um die Blutgerinnung, damit sie wieder punktiert werden können." Der Vater kann nicht zurück nach Hause, sein Zustand wird sich nicht bessern. Er wird sterben wie die anderen Alkoholiker, die nach jedem Krankenhausaufenthalt weiter trinken, bis zum Schluss: "ein Perpetuum mobile in den Tod".
Von Abschied und Tod
Es ist zu spät, sich auszusprechen, vielleicht hätte es auch nie Sinn gemacht: "Er weiß nichts von meiner Angst, von all dem, was mich jahrelang am Morgen mein Frühstücksbrot erbrechen ließ." Dennoch scheint am Ende etwas wie Ruhe einzukehren. Vielleicht, weil die Tochter sich nicht länger sorgen muss. "Es war ein früher Schnee in der Nacht im Oktober, als Vater starb. Ich war nicht da, ich hatte Nachtdienst."
Melitta Brezniks nüchterne Erzählweise ist schlagender als eine Ausweidung des Themas je sein könnte. Bohrende Sätze zwingen zum Weiterlesen, die klare Sprache der österreichischen Schriftstellerin trifft punktgenau, oft hart. Breznik, die als Ärztin in Basel arbeitet, legte mit ihrem schriftstellerischen Debüt "Nachtdienst" ein absolut beeindruckendes Buch über Abschied und Erinnerung vor - ohne Sentimentalität aber tief berührend.
Melitta Breznik: "Nachtdienst", Luchterhand Literaturverlag, München, 2010, 124 Seiten, 9 Euro, ISBN 978-3-630-62192-0
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.