Tahar Ben Jelloun bietet mit seinem Buch „Arabischer Frühling“ einen gelungenen Überblick über die Protestbewegungen in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens seit Anfang des Jahres 2011. Allerdings geben die oft fragwürdigen subjektiven Einschätzungen des Autors Anlass zur Kritik.
Ben Jelloun gliedert sein mit dem Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis 2011 ausgezeichnetes Buch in drei Abschnitte. Im ersten Teil beschreibt er die verschiedenen Protestbewegungen in Ägypten, Tunesien, Algerien, Marokko, Jemen, Libyen und was ihnen vorausging. Der zweite Abschnitt ist eine Novelle und beschreibt die Ereignisse im Leben des 26-jährigen tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in den Tagen vor seiner Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010. Diese Tat führte zu massiven Protesten im ganzen Land und löste den arabischen Frühling aus.
Die gut 30-seitige Novelle liest sich wie ein spannender Roman. Zeitweise vergisst man sogar, dass es hier um die Entstehung einer Protestbewegung geht, die innerhalb weniger Monate eine ganze Region grundlegend veränderte. Den Abschluss dieses Buches bilden zwei Essays, die der Autor bereits im Jahr 2003 verfasst hat und die sich mit den Voraussetzungen für eine Demokratisierung der arabischen Region beschäftigen.
Kritikwürdige Einschätzungen
Tahar Ben Jelloun fasst die Geschehnisse des Arabischen Frühlings und dessen Vorbedingungen zwar gekonnt und übersichtlich zusammen. Er kommt in seinem Buch allerdings auch zu einigen kritikwürdigen Einschätzungen. So bezeichnet er den von 1957 bis 1987 in Tunesien regierenden Herrscher Habib Bourguiba als einen großen Mann. Die Zustände während seiner Amtszeit schiebt er leichtfertig dessen „autoritärem Temperament“ zu. Dagegen disqualifiziert er Ben Alis Putsch, indem er ihn als „einen mit einer Friseurin verheirateten Militär“ bezeichnet.
Ben Jelloun verkennt, dass Ben Alis Putsch gegen den Machthaber 1987 zunächst großen Rückhalt im tunesischen Volk fand. Ben Ali nährte die Hoffnung auf eine Demokratisierung des Landes. Allerdings war spätestens nach seiner ersten manipulierten Wiederwahl von dieser Absicht nichts mehr zu spüren, Ben Ali regierte fortan mit eiserner Hand. Die hoffnungsvollen Monate nach Ben Alis Amtsantritt wurden auch als „Jasminrevolution“ bezeichnet, ein Begriff, der vor allem von westlichen Medien Anfang 2011 wiederentdeckt wurde. Viele Tunesier lehnten die Bezeichnung wegen der Umstände von 1987 ab.
Im Abschnitt „Algerien: Es wird Lang und Hart!“ schildert Ben Jelloun die schwierige politische Situation der seit Jahrzehnten andauernden Militärherrschaft. Die Demokratisierungsversuche Anfang der 90er-Jahre, die 1992 in einem blutigen Bürgerkrieg endeten und die jetzige Situation im Land so kompliziert machen, erwähnt der Autor mit keinem Wort. Stattdessen lässt er seine eigene, marokkanische Sichtweise einfließen. Er beklagt, dass Algerien als eines der wenigen Länder die Westsahara nicht als Teil Marokkos anerkennt, sondern seit rund 35 Jahren die dortige Unabhängigkeitsbewegung unterstützt. Man fragt sich, was diese Information mit dem Arabischen Frühling zu tun hat.
Der König tut sein bestes
Die Situation in seinem Heimatland Marokko beschönigt der Autor schonungslos. Demonstrationen tausender Menschen in der Hauptstadt erwähnt er mit keinem Wort. Er spricht lediglich davon, dass die Proteste in Tunesien und Ägypten „das politische Leben in Marokko natürlich beeinflusst haben.“ Der König scheint für ihn als natürliche Autorität nicht angreifbar zu sein. Wie anders wäre es zu erklären, dass er über Mohammed VI., der immer noch alle politische Fäden in der Hand hält und das Land autoritär regiert, sagt: „Der König arbeitet, er tut sein bestes.“ Den politischen Parteien gibt Jelloun eine Mitschuld an der mangelhaften Demokratisierung des Landes. Sie würden ihre Arbeit nicht gut machen.
Freiheit und Demokratie im Jemen?
Die vielschichtige und komplizierte politische Situation im Jemen handelt er auf vier Seiten ab. Den größten Teil davon widmet er der Geschichte des Landes und arabischen Teestubengeschichten. Die massiven Proteste und Unruhen finden nur in einem Absatz Platz, wobei für ihn folgende Aussage in Bezug auf die jemenitische Protestbewegung völlig außer Zweifel steht: „Dieses Volk ist nun aufgewacht und kämpft im arabischen Frühling 2011 um Freiheit und Demokratie.“
Tatsächlich einte die jemenitische Protestbewegung lediglich die Forderung nach dem Rücktritt von Präsident Ali Abdullah Saleh. Abgesehen davon sind die unterschiedlichen protestierenden Gruppierungen ebenso zahlreich wie ihre Forderungen. Das Land steht aufgrund der andauernden Konflikte im Süden und Nordwesten kurz vor dem Staatszerfall. Ob der Jemen in naher Zukunft ein freiheitlicher und demokratischer Staat sein wird, darf bezweifelt werden.
Insgesamt ist Ben Jellouns 120-seitiges Buch gut lesbar und auch für fachfremde Leser leicht verständlich. Allerdings taugt es nicht zur tiefer gehenden Beschäftigung mit der Protestbewegung oder für wissenschaftliche Zwecke. Dafür bietet Ben Jelloun an zu vielen Stellen im Buch subjektive Einschätzungen statt sachlicher Analysen.
Tahar Ben Jelloun: Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde,Berlin Verlag, Berlin 2011, 128 Seiten, 10 Euro
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo