Kultur

Ein Mensch - Zwei Leben

von Thomas Hörber · 9. Februar 2009
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In den Kapiteln zu Kindheit, Jugend und den Wiener Jahren finden sich die für Hitler-Biografien üblichen Themen, z.B. seine Liebe zur Mutter, oder sein Hass gegenüber dem Vater und zugleich das Streben nach Respekt von ihm. Die Verunsicherungen der Jugendzeit verschlagen Hitler nach Wien, letztlich um sich selbst zu finden und zu verwirklichen. Schmitt führt in seine Schilderung dieser Wiener Jahre, fast unbemerkt eine schizophrene Perspektive ein.

Adolf H. und Hitler
Zwei Figuren bestimmen fortan das Geschehen. Es trennt sich der Weg des Hitler, der als Bewerber an der Wiener Kunstakademie zum zweiten Mal scheitert, von dem des Adolf H. Letzterer muss als Kunststudent an eben dieser Akademie zwar hart an sich arbeiten, findet dort aber seinen Lebenssinn. Er geht nach Paris - die europäische Kunsthauptstadt der 20er Jahre, erlebt dort die Härten des Künstlerdaseins: ein prominenter Maler der Avantgarde, immer unzufrieden mit sich, weil seine eigenen Ansprüche über das menschlich Mögliche hinausgehen.

Hitler hingegen sucht nach anderen Feldern, sich zu beweisen. Über deutsch-nationale und antisemitische Kreise findet er Geschmack am Reden, an politischer Intrige und am Spiel mit der Macht. Er avanciert schließlich zum "genialen Weltenlenker", bis er dieses Trugbild mit seinem Selbstmord im Führerbunker in Berlin 1945 selbst ad absurdum führt.
Schmitt lässt die Leben von Adolf H. und Hitler in den Kapiteln parallel nebeneinanderher laufen. Beide sind Getriebene, suchen das Genie in sich, müssen scheitern. Doch Schmitt sieht einen gewaltigen Unterschied: Während Adolf H. sich den realen Herausforderungen des Lebens stellt, flüchtet Hitler sich immer mehr in die Scheinwelt des Führers. - Nicht immer überzeugend diese Erklärung!

Jungfräulichkeit und Sex
Hitlers Sexualität spielt wie sooft auch in diesem Roman eine große Rolle. Der jüdische Hausarzt seiner Mutter, der diese bis zum Ende versorgte, und den Hitler deshalb sehr verehrte, nimmt in Hitlers Suche nach einem männlichen Vorbild die Vaterrolle an. Er stellt die Verbindung zu Sigmund Freud her - die in der Realität nie stattgefunden hat. So wird Hitler von seinen Schuldgefühlen für den Tod des Vaters befreit. Und der Hausarzt ist es auch, der Adolf durch einen Ausflug ins Freudenhaus in die Sexualität einführt.

Dieses Glück widerfährt jedoch nur der Figur Adolf H., der sich dann eingestehen kann, dass er ein Problem mit Frauen hat. (Die in den vergangenen Jahren oft kolportierte These von Hitlers Homosexualität wird in diesem Buch nicht wirklich in Erwägung gezogen.) Adolf H. akzeptiert seine Schwäche und trifft schließlich mehr durch Glück als Verstand 11 Uhr 30, so heißt die große Liebe seines Lebens. Er lebt ein erfülltes und relativ normales Sexualleben, hat zwei Kinder mit seiner zweiten Frau.

Die Figur Hitler hingegen bleibt für Deutschland jungfräulich. Eva Braun heiratet er erst 1945 und nur weil Deutschland - seine große abstrakte Liebe - bereits verloren ist.

Unmensch und Mensch
So weit, so gut, so gegensätzlich. Aber: Ist das alles? Der Charme dieses Buches besteht darin, dass dem Leser ein alternatives Leben des Mannes vorgesetzt wird, der sich ins Bewusstsein als der Schöpfer der größten unmenschlichen Katastrophe eingebrannt hat. Damit wird er zur Inkarnation des Unmenschen: dessen, was keiner werden will, und der Maßstab, an dem gemessen wird, wer ähnliche Schandtaten begehen könnte.
Und doch war er einer von uns - ein Mensch. Diesen Widerspruch arbeitet Schmitt heraus. Hitler zum Unmenschen abzustempeln, enthob die Menschen der Pflicht, darüber nachdenken, was ihn zu diesen Taten fähig gemacht hatte. Die einfachsten Antworten sind nicht neu, z.B. sein hypochondrischer Charakter, Machtgier und Antisemitismus. Aber trugen nicht auch seine Lebensumstände, die Gesellschaft in der er aufwuchs, seine Mitmenschen dazu bei?

Die Antwort darauf hat keiner. Auch Schmitt nicht, wenngleich er mit seinen psychoanalytischen Ausführungen zu Hitlers verkümmerter Sexualität einen wichtigen Grund nennt. Viel wichtiger ist jedoch, dass Schmitt sich mit dem Menschen Hitler auseinandersetzt, ihn - so sehr es ihm auch widerstrebt - an sich heranlässt, sich in ihn hineinversetzt. Als der Autor so auch in sich das Potenzial zum Bösen entdeckt, kehrt er den Prozess um. Er macht Hitler vom Unmenschen zum Menschen und öffnet dem Leser die Augen fürs Emotionale. Das ist etwas, was die mannigfaltigen Hitler-Biografen nichttun, was aber auch zeigt, dass Rationalität allein Hitler nicht erklären kann, selbst Logik hier versagt.

So bringt Schmitt den aufmerksamen Leser zum Nachdenken über sich selbst. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Reflektionsprozess, der nötig ist, um das "Nie wieder", sei es Krieg, Holocaust oder Hitler, zu zementieren. Nicht schlecht, absolut lesenswert, wenn auch manchmal etwas langatmig.

T homas Hörber
ESSCA, Angers (Frankreich)


Eric-Emmanuel Schmitt, Adolf H. - Zwei Leben, Ammann Verlag, Zürich 2007, 512 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-250-60107-4,
französisches Original: "La Part de l'autre", Édition Albin Michel, Paris, 2001


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